Angesichts der im 6. Beitrag angedeuteten Probleme und der Unmöglichkeit ihrer Überwindung: was sind die absehbaren Konsequenzen für die Demokratie, wenn die große Mehrheit der wahlberechtigten Bürger politisch kaum interessiert und informiert ist und die Abgabe ihrer Stimme bei der Wahl hauptsächlich von irrationalen Erwägungen geleitet wird? Wie kann das gut gehen, wenn unwissende Bürger demonstrieren, Politiker und Parteien uneinig sind – und die Bürger zu wenig wissen, um verstehen zu können, wo die Schwierigkeiten bei der Problemlösung liegen? Sie verlieren daher ihr Vertrauen in die Möglichkeiten der Politik und der Demokratie. Wie kann eine Demokratie ohne eine Mehrheit mündiger (politisch interessierter und engagierter) Bürger funktionieren? Wie soll der „Wille des Volkes“ ermittelt werden, wenn die meisten Bürger nicht wissen, was sie wollen und was ihnen guttut – und wenn sie Forderungen stellen, deren Konsequenzen sie nicht übersehen?
Ich sehe nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Wir müssen uns verabschieden von der Vorstellung, dass eine demokratische Politik dem Willen der Mehrheit folgt. Wir müssen diese Vorstellung als Illusion erkennen und Demokratie neu denken lernen.
Wenn die Mehrheit nicht weiß, was sie will und ihr guttut, dann weiß das vielleicht eine Minderheit. Sie macht einen Unterschied zwischen artikulierten Forderungen und tatsächlichen Interessen der Bevölkerung. Sie sieht sich als verantwortliche Hüterin des Allgemeinwohls, vergleichbar einem Hirten, der seine Schafsherde sicher zu den besten Weideplätzen führt.
Unterbrechung: Diese sehr weitgehende Schlussfolgerung werde ich weiter unten (am Schluss) noch einschränken, indem ich eine Bedingung formuliere, unter der echte Demokratie noch denkbar ist: bei der sich also die politisch relevante Willensbildung auf eine große Mehrheit der Bürger und nicht nur auf die kleine Minderheit der politisch interessierten und engagierten Bürger stützt.
Zurück zum unterbrochenen Gedankengang: Diese kleine Minderheit, die in unserer Demokratie die Geschicke der Gesellschaft leitet, sollte – so denke ich – folgenden Ansprüchen genügen (ihre Reihenfolge sagt nichts über ihre Bedeutung):
- Wissen: Sie sollte hinreichend gut informiert sein, um die Auswirkungen beschlossener Gesetze abschätzen zu können.
- Offenheit: Sie sollte in Fällen, in denen sie sich dieser Auswirkungen nicht bewusst ist, diese Unsicherheit öffentlich machen und mittels der offenen Debatte die Risikobereitschaft der Menschen in ihre Entscheidung einbeziehen.
- Meinungsvielfalt: Sie sollte eine freie Diskussion aller politisch relevanten Angelegenheiten fördern, also die Vielfalt der Medien absichern.
- Materielle Sicherheit: Sie sollte die Voraussetzungen schaffen, damit der Wohlstand der Bevölkerung erhalten bleibt oder wächst (Merke: stürzt der Wohlstand ab, entsteht eine für die Demokratie gefährliche Krisensituation, in der radikale Populisten die Oberhand gewinnen).
- Sozialer Ausgleich: Sie sollte mit oberster Priorität dafür sorgen, dass der Wohlstand allen zugute kommt, also: Vollbeschäftigung bei hinreichendem Einkommen für alle (auch wenn als Folge davon der „Gesamtkuchen“ – das BIP – kleiner ausfällt).
- Nachhaltigkeit: Sie sollte die Weichen so stellen, dass auch kommende Generationen noch gut leben können (Abwehr des Klimawandels, Schonung nicht erneuerbarer Ressourcen)
- Recht: Last but not least: Sie muss sich den Menschenrechten (speziell unserem Grundgesetzt) verpflichtet fühlen, also alles unterlassen, was diesen widerspricht.
Um eine solche Minderheit zu installieren: brauchen wir dazu eine Revolution?
Meine Antwort: Nein, die brauchen wir nicht, denn wir haben bereits diese Minderheit von einflussreichen (die Macht über uns ausübenden) Menschen – weit über die Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen hinaus. Diese Minderheit regiert uns schon heute, ohne dass wir es so richtig merken. Ob sie uns gut genug regiert – darüber gehen natürlich die Meinungen auseinander.
Zu dieser Minderheit, die unter sich die zu beschließenden Gesetze aushandelt und damit die Macht ausübt, gehören (neben den gewählten Abgeordneten, die das Ausgehandelte schließlich nach außen vertreten) zum Beispiel die Vertreter der Medien, der Kirchen, der Gewerkschaften, der Wirtschaftsverbände, der größeren Berufsgruppen, der Sozial- und der Umweltverbände, der Wissenschaft/Bildung/Kultur. Sie geben in den gesellschaftspolitischen Debatten den Ton an – und das ist gut so. Jeder dieser Vertreter relevanter Gruppen vertritt sein Interesse (seine Sicht der Dinge) mit voller Überzeugung – in der Meinung, damit dem Allgemeinwohl zu dienen. Und jede dieser Interessengruppen hat mindestens eine „Denkfabrik“ im Hintergrund – also Wissenschaftler, die für diese Gruppe die Argumente „schmieden“, mit denen sie am politischen Meinungskampf teilnehmen und die gewählten Politiker überzeugen wollen („Lobbyismus„).
Die Interessenvertreter als „Sprecher wichtiger Belange“ wirken mehr hinter den Kulissen, obwohl sie auch in den Medien präsent sind. Sie sind alle voneinander abhängig. Ihre Wirkungsfelder überschneiden sich. Sie alle sind an einem funktionsfähigen Staat interessiert, in dem die Bürger mit möglichst wenig Existenzangst und einigermaßen zufrieden ihren Geschäften und Neigungen nachgehen können.
Die Einseitigkeit ihrer Einflussnahme auf das Regierungshandeln ist nicht verwerflich, denn sie wird dadurch aufgehoben, dass das Zusammenspiel der Einseitigkeiten ein „rundes“ Bild abgeben kann, sofern mit offenen Karten gespielt wird. Transparenz ist also oberstest Prinzip beim Begründen und Aushandeln der unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen. Dass es auch Betrüger und andere Kriminelle unter den Interessenvertretern gibt (schwarze Schafe), spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Dafür gibt es Gerichte.
Oft werden diese Machtzentren abfällig als Lobbyisten bezeichnet, aber sie erfüllen einen ehrenwerten Job: sie tragen ihre (natürlich einseitigen) Argumente vor, wenn gesetzgeberische Entscheidungen vorbereitet werden, von denen ihre Interessen berührt sind.
Die Kunst der verantwortlichen Politiker und der zuständigen Verwaltungen ist es, aus den vorgebrachten Argumenten die zutreffenden von den irreführenden („die Spreu vom Weizen“) zu trennen.
Jeder von uns kann irgendwie an seinem Platz mit seinen speziellen Möglichkeiten ein klein wenig Einfluss auf das politische Geschehen nehmen: auf den öffentlichen Diskurs, der den Zeitgeist und politische Entscheidungen beeinflusst. Wir können bei den Kommunal, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen unsere Stimme abgeben und uns, wie bereits gesagt, in Parteien und politisch aktiven zivilgesellschaftlichen Gruppen engagieren. (Dazu werde ich in meinem nächsten Beitrag einschränkende Bemerkungen machen: „Wie artikuliert Mensch seinen politischen Willen?))
Anders als in Diktaturen, in denen die Menschenmassen mit „Brot und Spielen“ bei Laune gehalten werden und wo die Opposition mit Gewalt unterdrückt wird, ist es uns in der Demokratie möglich, Meinungen offen auszusprechen und am Meinungskampf teilzunehmen.
Dazu brauchen wir, wenn es um wichtige Themen geht, einigermaßen fundiertes Wissen und Urteilsvermögen – und hier schließt sich der Kreis meiner Überlegungen zum Thema, was wir eigentlich wissen und wozu wir das – im Zusammenhang mit Demokratie – brauchen.
Aber die Überlegungen sind nicht zu Ende. Das kritische Denken fängt eigentlich hier erst richtig an. Denn wir können uns nicht um die Frage herumdrücken: warum läuft politisch so vieles falsch? Warum muss zum Beispiel die griechische Bevölkerung so sehr leiden? Warum sind dort fünfzig Prozent der Jugendlichen und 25 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos und warum lebt nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise mehr als die Hälfte der Bevölkerung am Existenzminimum, während die griechische Oberschickt ihr unermessliches Vermögen behält und, soweit es beweglich ist, in Steueroasen gebunkert hat?
Die oben aufgelisteten Forderungen, die ich an unsere Mächtigen gestellt habe, sind in Deutschland zu wenig erfüllt und in manchen anderen Demokratien noch viel weniger. Wie kürzlich in der SZ zu lesen war, verfügt eine winzige Minderheit (ein Prozent der Erdbewohner) über fünfzig Prozent des weltweiten Vermögens. Und mehr als 30 Prozent haben gar kein Vermögen, sondern leben von der Hand in den Mund. Geld regiert die Welt. Die Finanzelite spielt mit den Regierungen der einzelnen Länder Katz und Maus.
Seit die Finanz- und Gütermärkte global geöffnet wurden, weil die reichen Länder für ihre Industriegüter Absatzmärkte brauchten und billig an die Rohstoffe der armen Länder kommen wollten, befinden wir uns in einem globalen Standortwettbewerb, der die Volkswirtschaft hart bestraft, die in diesem harten Konkurrenzkampf nicht mithalten kann. Als Standortnachteile gelten alle Gesetze, die den im globalen Wettbewerb stehenden Unternehmen Lasten auferlegen, zum Beispiel Unternehmenssteuern, soziale und ökologische Rücksichten, natürlich auch Lohnerhöhungen. Sie sind Sand im Getriebe der nach betriebswirtschaftlichen Kriterien gemessenen Effizienz.
Wenn wegen schlechter Wettbewerbsbedingungen Unternehmen entweder bankrott gehen oder ihre Produktion in Länder mit (aus Unternehmersicht) „besseren“ Bedingungen verlagern, gehen unserem Land Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verloren. Da nicht nur Politiker, sondern wir alle ein großes Interesse an der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen haben, kann mit der Drohung: „Wenn ihr mit dem Gesetz XY unsere globale Wettbewerbsfähigkeit schwächt, müssen wir in ein wirtschaftsfreundlicheres Land gehen, um zu überleben“ ein Einfluss ausgeübt werden, der an Erpressung grenzt.
Wir müssen also über die Macht der Wirtschaft reden, die offensichtlich in der oben skizzierten Runde der Mächtigen einen besonderen Platz beansprucht, der ihr von den anderen auch zugestanden wird. Was nützt uns die freie Meinungsäußerung, wenn unsere gut begründete Meinung zwar von den Mächtigen gehört wird, jedoch beiseite geschoben wird, sobald sich die wirtschaftlichen Eliten davon beeinträchtigt sehen? In meinem nächsten Beitrag werde ich zunächst einmal auf die „Macht des einzelnen Bürgers“ und deren Fallstricke eingehen, bevor ich mich mit der Macht der Wirtschaftselite beschäftige.
Und wir müssen über die Gefährdung der Demokratie reden.
Die Bereitschaft der „Schafe“, sich vom „Hirten“ führen zu lassen, schwindet, wenn der Hirte sie nicht mehr zu den saftigen Weiden führen kann. Mit anderen Worten: Wenn die elementaren Bedürfnisse der Menschen nach materieller Sicherheit (Schutz vor Not) und nach Ordnung (Schutz vor Chaos und Gewalt) nicht mehr von der Elite erfüllt werden können, rebelliert die Bevölkerung. Enttäuscht von der alten Elite will sie nun selbst die Politik bestimmen. In solchen Krisenzeiten lässt sich die Bevölkerung leicht politisieren, ohne politisch kompetent zu sein. Die aufgeregten, verängstigten Menschen folgen dann den Phrasen von „Führern“ (Demagogen) und lassen sich Feindbilder einreden. Die „Basis“ will die Macht („Wir sind das Volk“) und sucht sich Führergestalten. In der Krise ist die Demokratie gefährdet.
Und nun zur oben angekündigten Einschränkung meiner Aussage über die Macht der kleinen kompetenten Minderheit in unserer Demokratie:
Ich gehe bei dieser Aussage von den heute in Deutschland herrschenden Bedingungen aus: von einem Staat also, in dem fast alle wichtigen Entscheidungen auf der Bundesebene (im Zentrum) fallen. Es gibt jedoch eine Alternative, die uns einige andere Länder vormachen: die Verlagerung der meisten Entscheidungen auf die kommunale Ebene (Dezentralisierung der demokratischen Macht). Während auf der Bundesebene die Gesetzgebung und ihre Auswirkungen hoch komplex und für den normalen Bürger nur schwer durchschaubar sind, lassen sich die Auswirkungen von Entscheidungen auf der kommunalen Ebene relativ leicht überblicken. Der Bürger kann sich auf dieser Ebene direkt über die Auswirkungen seiner Entscheidungen informieren, wenn er zum Beispiel über den Ausbau von Gemeinschaftseinrichtungen für Bildung, Gesundheit, Verkerhrsinfrastruktur oder Altersversorgung entscheiden kann. Und wenn er die Höhe der Steuern, mit denen diese Einrichtungen finanziert werden müssen, selbst bestimmen kann.
Was ich hier andeute, ist keine blasse Theorie, sondern wird praktiziert – und funktioniert am besten in den skandinavischen Ländern. Wer es genauer wissen will, dem empfehle ich folgendes Buch: „Von wegen alternativlos! Die gerechte Gesellschaft als Ziel“ (Karl-Martin Hentschel, europa verlag zürich, 2013). Dort wird genau dargestellt, wie viel Kompetenzen die Kommunen haben und warum zum Beispiel die Schweden gerne Steuern zahlen. Die Funktionsfähigkeit von Demokratie hängt in hohem Maße davon ab, welche Bedeutung die Kommunen für die Bürger haben, siehe Beitrag Dem21. zum Inhaltsverzeichnis
Deine Meinung