Dieser Beitrag hätte auch „Eine bessere Demokratie ist möglich!“ heißen können. Denn in einer drastischen Ausweitung der Kompetenz der Kommunen sehe ich die Möglichkeit für einen entscheidenden Fortschritt unseres bisher allzu zentralistisch organisierten Staates.
In den vorausgehenden Demokratie-Beiträgen habe ich Fehlentwicklungen in unserer Demokratie angesprochen, insbesondere die Tatsache, dass sich im Zuge der Globalisierung die Wirtschaft in ihrer Eigenlogik mehr und mehr verselbständigt und dass sich die Politiker dieser Logik unterwerfen.
Demokratie lebt von der Vorstellung, dass sich die meisten Menschen für Fragen des Gemeinwohls interessieren, auch dann, wenn sie persönlich nicht unmittelbar und schmerzlich von einer bestimmten politischen Entscheidung betroffen sind. Dass dieses Interesse weitgehend fehlt, macht unsere Demokratie so schwach und angreifbar.
Eine wesentliche Ursache für die bei uns grassierende Demokratiemüdigkeit ist das Gefühl der Bürger, dass die wichtigsten Dinge über ihre Köpfe hinweg entschieden werden, ohne dass sie nennenswerten Einfluss darauf haben. Die Wahlen werden mehr und mehr nur noch als ein symbolischer Akt empfunden. Die Masse der Wähler sieht sich wie eine Schafsherde behandelt, die überfordert wäre, wenn man ihr die Wahl ihres Weges überlassen würde.
Dieser Beitrag, der sich vor allem auf ein Buch von Karl-Martin Hentschel bezieht (weiter unten), wird anhand des Beispiels Skandinavien einen Ausweg aus diesem Dilemma aufzeigen.
Wir leben nicht nur in einer Demokratie, sondern in einer Demokratie, die sich dem Sozialstaat verpflichtet hat. Das heißt im Klartext: Es gibt Grundbedürfnisse, auf deren Realisierung jeder Mensch rechtlichen Anspruch hat, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Neben der Sicherung des Frieden und der Rechtsstaatlichkeit gehört zum Gemeinwohl die Sicherung der für jedes Leben elementaren Dinge (man nennt das auch die „Daseinsgrundfunktionen“).
Grundsätzlich gilt für mich (und da stehe ich sicherlich nicht allein): Das Gemeinwohl muss auch dann Vorrang genießen vor wirtschaftlichen Interessen, wenn es sich wirtschaftlich nicht rentiert. Unter Gemeinwohl im Sinne der Sicherung der „Daseinsgrundfunktionen“ verstehe ich die Grundversorgung der Menschen mit den lebensnotwendigen Dingen, auf die niemand verzichten kann. Dazu gehören erstens die Versorgung mit gesunden Grundnahrungsmitteln, zweitens die Versorgung mit Wohnraum, drittens die Versorgung mit Wasser und Energie, viertens eine hinreichende medizinische Versorgung, fünftens ein Erziehungs- und Bildungssystem, das allen Bürgern gleichermaßen die Voraussetzungen bietet, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, und sechstens eine menschenwürdige Situation im Alter.
Der Zugang zu diesen „Säulen des Gemeinwohls“ ist für alle Bürger (außer denen, die so viel Geld haben, dass sie alle diese Leistungen aus eigener Tasche bezahlen können) von extrem hoher Bedeutung. Niemand möchte von diesen lebenswichtigen Leistungen ausgeschlossen sein. Wer auf diese „Solidarität der Gesellschaft“ in schwierigen Zeiten nicht zählen kann, gerät mit guten Gründen in Existenzangst. Ich behaupte: wenn diese Leistungen für jedermann sichergestellt sind, dann sind alle darüber hinausgehenden Fragen der Politik (ausgenommen Friedenspolitik und Rechtsstaatlichkeit) eher zweitrangiger Natur.
Daher drängt sich mir der folgende Gedanke auf: wenn die sechs genannten „Säulen des Gemeinwohls“ alle im Kompetenzbereich der Kommunen liegen würden – also nahe beim Bürger „ganz unten“ in der staatlichen Entscheidungspyramide, dann würde das Interesse der Bürger an demokratischen Entscheidungsprozessen sprunghaft steigen. Denn dann würden die Bürger die Folgen ihrer demokratischen Entscheidungen genau beobachten und daraus lernen können – und könnten Fehlentscheidungen auch relativ schnell korrigieren. Aus der Demokratie würde dann eine spannende Angelegenheit werden.
Wenn mit eigenen Augen gesehen werden kann, was mit den Steuergeldern geschieht, dann steigt auch die Bereitschaft, Steuern in erforderlichen Umfang zu zahlen. Und wenn die Möglichkeit besteht, Einfluss auf die Höhe und die Verwendung der Steuern zu nehmen, dann steigt auch die Bereitschaft, sich in den Kommunen für Politik zu interessieren und zu engagieren.
Ich schrieb soeben: „Wenn…, dann…“. Das klingt nach realitätsferner Utopie. Wie oft hören wir solche theoretischen Überlegungen und Vorschläge, wie Probleme besser gelöst werden könnten! Und dann regen sich Zweifel: Es klingt gut, aber funktioniert es auch? Es gibt in unserer komplexen Gesellschaft so viele unbeabsichtigte Nebenwirkungen gut gemeinter Vorschläge, dass wir schwerlich absehen können, ob die negativen oder die positiven Wirkungen dieser Gesetze größer sind.
Was ich hier als Möglichkeit skizziert habe, ist keine Theorie, sondern hat sich in anderen Ländern bereits in der Praxis bewährt. Diese Praxis sollten wir uns genau anschauen und ihre Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse prüfen. Bevor ich auf diese vorbildliche Praxis eingehe, eine knappe Bemerkung zum Status quo bei uns.
Auch in Deutschland spielt die kommunale Selbstverwaltung eine nicht unbeträchtliche Rolle. So etwa kennen wir zahlreiche Stadtwerke in kommunalem Besitzt, wir kennen kommunal finanzierte Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten und Schulen. Im Rahmen der „kommunalen Planungshoheit“ setzten die Kommunen einen räumlichen und gestalterischen Rahmen für das Bauen fest. Bei den Kommunen (einschließlich ihrer Zusammenschlüsse bis hin zu Landkreisen und Bezirken) liegen zahlreiche soziale Einzelaufgaben. Ist das nicht schon genug? Was wollen wir mehr?
Ich sehe das politische Defizit darin, dass es auf der kommunalen Ebene kaum einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Steuern und der Bewältigung der genannten Kompetenzen gibt. Es fehlt eine direkte Rückkoppelung. Reiche Kommunen können sich mehr und bessere Einrichtungen für das Gemeinwohl leisten als arme Kommunen – trotz Finanzausgleich. Die meisten Kommunen fehlt es vorn und hinten am nötigen Geld, um die ihnen zugedachten Aufgaben in ausreichendem Maße erledigen zu können. Die Gesetze, die sich auf die Bewältigung der kommunalen Aufgaben beziehen, werden auf Bundesebene beschlossen und nicht in den Kommunen. Und daher lassen sich weder die Gesetze noch die Höhe der Steuern an die speziellen Situationen und Bedürfnisse in den Kommunen anpassen.
Das aus demokratietheoretischer Sicht schlimmste Ergebnis unserer relativ zentralistisch ausgerichteten Entscheidungsstruktur ist die riesige mentale Entfernung der Bürger zu der staatlichen Ebene, auf der entschieden wird, wie viel Geld für die Sicherung ihrer wichtigsten Grundbedürfnisse zur Verfügung gestellt wird. Und diese Distanz führt bekanntlich zu Desinteresse und Politikverdrossenheit. „Die Kommunalpolitik steckt in der Krise“, heißt es in einer Studie der Bertelsmannstiftung: „Mitgliederschwund, Nachwuchsprobleme, sinkende Wahlbeteiligung.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25./26. April 2015). Der Grund für diese Krise sehe ich darin, dass die Bürger (auch die Gemeinderäte und Bürgermeister) finanziell zu sehr von den Entscheidungen auf höheren Ebenen abhängig sind. Sie haben zu wenig zu entscheiden.
Nun zum Kern. Auf welche vorbildliche Praxis in anderen Ländern beziehe ich mich? Karl-Martin Hentschel hat im Jahr 2013 über die kommunale Basis des skandinavischen Sozialstaates ein Buch geschrieben, das leider viel zu wenig Aufsehen erregt hat: „Von wegen alternativlos! Die gerechte Gesellschaft als Ziel“ (Europa-Verlag Zürich). Es ist ein etwas fader Titel für ein Buch, das die Politik und die Erfolge der skandinavischen Länder (speziell Dänemarks und Schwedens) ausführlich darstellt und erklärt.
Bevor ich auf die große Bedeutung der skandinavischen Kommunen – ihre Auswirkungen auf Sozialstaat und Demokratie – eingehe, zitiere ich zunächst wichtige Schlüsseldaten der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie zeigen, dass sich die skandinavischen Länder im globalen Standortwettbewerb trotz ihres komfortablen Sozialstaates gut behaupten können. Wie machen sie das bloß?
Warum floriert die Wirtschaft trotz der hohen Staatsquote?
Anfang der Neunzigerjahre schien das skandinavische Sozialsystem am Ende zu sein. Die skandinavischen Länder befanden sich in einer schweren Krise mit hoher Arbeitslosigkeit. Radikale Entscheidungen der damaligen Regierungen haben den Niedergang umgedreht.
Die Arbeitslosigkeit in Schweden und Dänemark liegt seit Jahren um die fünf Prozent und der Staatshaushalt steht im Plus, so dass jedes Jahr Schulden abgezahlt werden können. Die Beschäftigungsquote liegt mit 74 Prozent der Erwerbsbevölkerung um circa 20 Prozent höher als in Deutschland (59%), insbesondere weil viel mehr Frauen und ältere Arbeitnehmer berufstätig sind. Bei dieser Beschäftigungsquote hätte Deutschland keine Arbeitslosen mehr.
Wichtige Unterschiede der steuerlichen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft:
• Die nominalen Unternehmenssteuern liegen mit 28 bis 30 Prozent in Skandinavien niedriger als in Zentraleuropa. Hinsichtlich der faktisch bezahlten Steuern (bei Inanspruchnahme der zahllosen illegalen und legalen Möglichkeiten der Steuervermeidung) spielt für die Konzerne dieser Unterschied keine Rolle. Der Unterschied ist jedoch wichtig für die kleinen und mittleren Betriebe, die in der Regel wie Kapitalgesellschaften besteuert werden und nicht, wie in Deutschland, gegenüber den Konzernen benachteiligt werden. Der Unterschied hat entscheidende Bedeutung für den Arbeitsmarkt. Die kleinen Betriebe halten die große Masse der Arbeitsplätze bereit, auch derer, die neu geschaffen werden.
• Der Anteil der indirekten Verbrauchssteuern liegt höher als anderswo, wobei die Mehrwertsteuer von 25 Prozent hervorsticht. Die Finanzierung von Sozialabgaben über die Mehrwertsteuer ist im internationalen Stanortwettbewerb ein Vorteil, denn sie wird nicht auf Exporte erhoben, wohl aber auf die Importe. Im Unterschied zu Steuern auf Arbeit belastet sie also nicht die Arbeitnehmer und Arbeitgeber und führt dazu, die Importe am Steueraufkommen zu beteiligen.
• Ebenso elegant ist die Erhebung von Verbrauchssteuern auf Waren. Denn diese werden überwiegend importiert. Dies gilt für die meisten Ökosteuern (Kohle, Mineralöl, Gas), aber auch für die hohen Anschaffungssteuern für Fahrzeuge in Dänemark (Registration Tax: 190 %!)
• Ein besonders wichtiger Unterschied besteht darin, dass das Sozialsystem überwiegend über Steuern finanziert wird. Das gilt besonders für Dänemark. Damit werden zwei Effekte erreicht: die hohen Einkommen werden wesentlich stärker an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligt und die Abgaben der unteren Einkommen sind deutlich niedriger.
• In Dänemark und Schweden wird eine relevante Vermögenssteuer erhoben, vor allem eine Grundsteuer zu aktuellen Einheitswerten (während sie in Deutschland weitgehend abgeschafft wurde).
• In Skandinavien werden Sozialabgaben (Krankenkasse, Rente etc.) prozentual auf das gesamte Einkommen erhoben. In Deutschland dagegen steigen die Sozialabgaben nur bis zu einer bestimmten Höhe des Einkommens (Deckelung), was auf eine drastische Privilegierung der Reichen zu Lasten der Normalverdiener hinausläuft.
Dem Dogma der Wirtschaftsliberalen zum Trotz gehören die skandinavischen Staaten zu den in den letzten Jahren ökonomisch erfolgreichsten Staaten der Erde (Platz 1,3,4 und 7 beim Bruttoinlandsprodukt BIP pro Kopf, ohne Zwergstaaten), obwohl sie zugleich den höchsten Staatsanteil am BIP von allen OECD-Staaten haben. Zugleich liegen sie auch beim Grad der sozialen Gerechtigkeit an der Spitze (laut Gini-Index, der das Auseinanderklaffen von Arm und Reich misst). Die Zahlen widerlegen den neoliberalen Glauben, dass niedrige Steuern gut für die Wirtschaft sind.
Wie geht man um mit drohender und eingetretener Arbeitslosigkeit? Der Arbeitsmarkt in Skandinavien ist schon immer liberaler als in Deutschland. Es gibt z.B. in Dänemark keinen gesetzlichen Kündigungsschutz, wohl aber tarifliche Vereinbarungen. Es gibt auch keine allgemeine Arbeitslosenpflichtversicherung. Allerdings sind über 90 Prozent der Beschäftigten in Dänemark und Schweden Mitglied in einer von den Gewerkschaften organisierten Arbeitslosenversicherung. Das ist der Grund für den sehr hohen Organisationsgrad. Die Arbeitslosenversicherung in Schweden zahlt immer noch 80 Prozent des bisherigen Lohns – aber nur bis zu einer Höhe von etwa 1.500 Euro. In Dänemark liegt sie jetzt bei 76 bis 87 Prozent (mit Kindern) gegenüber früher 90 Prozent. Die Bezugsdauer wurde von sieben auf vier Jahre verkürzt.
Das Steuersystem ist in Skandinavien sehr einfach gestrickt. Der schwedische Bürger kann auf einem einseitigen Formular seine Steuererklärung abgeben. Einmalig ist auch: es gibt kein Steuergeheimnis – ebenso wenig wie ein Bankgeheimnis. Jeder Bürger kann die Steuererklärung seines Nachbarn leicht im Internet nachlesen. Der Datenschutz, der in Deutschland so hoch gehalten wird, dient wohl eher denen, die ihre Einkommensquellen geheim halten wollen oder müssen – aus welchen Gründen auch immer.
Zur Bedeutung der Kommunen in Skandinavien
Für die skandinavischen Bürger besteht der Staat überwiegend aus seiner Kommune. Der Zentralstaat hat für das tägliche Leben eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Alle wesentlichen Bereiche des täglichen Lebens und des Sozialstaates gehören in die Zuständigkeit der Kommunen und werden auch von den Kommunen finanziert: Erziehung und Bildung, Gesundheitsvorsorge, soziale Absicherung und Fortbildung bei Arbeitslosigkeit, Versorgung bei Krankheit und im Alter, Kultur, Erholung…
Praktisch die gesamte Daseinsvorsorge ist kommunal organisiert. Für alles, was den Bürger interessiert und was ihm wichtig ist, ist die Kommune oder die Region zuständig. Mit dem Zentralstaat hat der normale Bürger nur zu tun, wenn es um Militär, Polizei, die Justiz und ähnliche hoheitliche Aufgaben geht – also um die historischen Funktionen des Obrigkeitsstaates.
In Deutschland dagegen hängen die Kommunen weitgehend am (nicht nur fananziellen) Gängelband des Bundes und der Länder. Ein Großteil der Mittel der Kommunen sind entweder zweckgebundene Mittel von Bund- und Land- oder EU, durch Bundes- oder Landesgesetze fixiert oder sie sind erforderlich, um zweckgebundene Mittel von Bund, Land oder EU kozufinanzieren, da diese Mittel sonst verfallen. Die resultierenden Mittel, über die frei verfügt werden kann, liegen daher zwischen 0 und 10%.
Es ist also kein Wunder, dass die skandinavischen Bürger (viel mehr als die deutschen) bereit sind, hohe Steuern zu zahlen. Ein Bürger, der tagtäglich sehen kann, was mit seinem Geld gemacht wird, zahlt lieber Steuern, als wenn das Geld in anonyme Töpfe fließt. Und er wird sich politisch auf kommunaler Ebene mehr interessieren und engagieren, weil er tatsächlich (und nicht nur in der Phantasie) Einfluss auf das kommunale Geschehen nehmen kann.
Zur Größe der skandinavischen Kommunen: Zu unterscheiden sind Regionen und Kommunen. Seit der Reform 2007 ist Dänemark in fünf Regionen mit durchschnittlich etwas über 1 Million Einwohnern gegliedert. Wenn man die großen Städte wie Kopenhagen ausnimmt, dann haben die (ländlichen) Kommunen in Dänemark und Schweden im Durchschnitt 30.000 Einwohner (in Schweden gibt es 290 Gemeinden in 20 Regionen). In Skandinavien bestehen die Kommunen meist aus einer Stadt mit ihrem Umland. Stadt und Umland gehören zusammen – den für Deutschland typischen Gegensatz zwischen armen Zentralorten und vergleichsweise besser gestellten Landkommunen gibt es in Skandinavien also nicht.
Zu den Einnahmen der Kommunen und zum Finanzausgleich
In Dänemark und Schweden haben die Kommunen mehr Rechte als in Deutschland die Bundesländer. Denn sie haben das wichtigste Recht: Sie entscheiden selbst über ihre Steuereinnahmen. Die kommunalen Steuern machen den größten Teil der Einnahmen aus. In Schweden ist die kommunale Steuer eine Flat Tax, also ein einheitlicher Steuersatz auf alle Erwerbs- und Renteneinkommen. Die Kommunen und die Läns (Regionen) legen die Steuersätze selbst fest. Insgesamt schwanken die addierten Kommunalsteuersätze erheblich zwischen 28,9 und 34.04 Prozent (2004).
Bürger bis cica 39 000,- Euro Jahreseinkommen zahlen in Schweden nur Steuern an die Gemeinde und den Län (eine Art Großkreis). Nur wer über 39 000,- Euro verdient (mehr als 3.250,- € monatlich), muss dafür zusätzlich eine progressive Einkommenssteuer an den Zentralstaat bezahlen. An den Zentralstaat gehen ebenfalls Mehrwertsteuer, die anderen Verbrauchssteuern und Unternehmenssteuern. Eine Krankenschwester verdient ca. 32.400 SEK (= 3.700, €) im Monat (deutlich mehr als in Deutschland).
In Schweden werden fast 25 Prozent des BIP durch die Kommunen ausgegeben. In Dänemark sind es sogar noch mehr. In Deutschland werden nur ca. 7 Prozent des BIP durch die Kommunen ausgegeben. In Dänemark erfolgen etwa zwei Drittel aller staatlichen Ausgaben durch die Kommunen, in Schweden ist es immerhin fast die Hälfte. Im Vergleich dazu fristen die Kommunen in Deutschland ein Kümmerdasein.
In der Kompetenz dänischer Kommunen liegen folgende Aufgabenbereiche:
- Schulen und Kindergärten
- Soziale Dienste, Altenpflege
- städtebauliche Planung, Bauwesen
- Abfall, Wasserver- und -entsorgung
- Umweltschutz
- Öffentlicher Personennahverkehr ÖPNV
- Krankenversorgung
Wie wird zwischen reichen und armen Gemeinden ausgeglichen, damit auch arme Gemeinden die notwendigen Ausgaben tätigen können? Der Finanzausgleich zwischen Kommunen besteht aus zwei Komponenten: Erstens aus dem Ausgleich der Steuerkraft. Dieser hat das Ziel, dass alle Kommunen ihren Bürgern gleiche Lebenschancen bieten können. Die zweite Komponente des Finanzausgleichs ist der Strukturausgleich. Er berücksichtigt die Zahl der Kinder, die Beschäftigtensituation, die Bevölkerungsdichte, die Verkehrsdichte, das Klima (wichtig für die nördlichen Gebiete) und einen Zuschlag für Gebiete mit Bevölkerungsrückgang. In der Konsequenz kann dieser Ausgleich durchaus zu einer (gewollten) Überkompensation ärmerer Gebiete führen.
Und wie wird der Finanzausgleich in Deutschland gehandhabt? Der kommunale Finanzausgleich ist in jedem Bundesland unterschiedlich geregelt. Er ist sehr komplex – teilweise aufgabenbezogen, teilweise einnahmebezogen. Auf jeden Fall entspricht der Finanzausgleich nicht den Aufgaben. So haben gerade große Städte mit hohen Sozialausgaben meist sehr hohe Schulden.
Die Diskussion wird erschwert durch die Dominanz der Gewerbesteuer. Diese ist veränderlich (weil konjunkturabhängig) und sehr ungerecht. So schwimmen manche Kommunen im Geld, weil sie eine lukrative Firmenzentrale beherbergen, andere haben fast nichts, weil wichtige Firmen durch den Strukturwandel in die roten Zahlen gerutscht sind.
Ist es nicht verwunderlich, dass die skandinavischen Bürger die mit ihrem gut ausgebauten Sozialstaat verbundene Steuerlast akzeptieren? Immerhin ist die Summe der Steuern und Abgaben insgesamt ein Drittel höher als in Deutschland. Die Forderung nach Steuersenkung spielt bei den Wahlen kaum eine Rolle. Die letzten Wahlsiege der Konservativen und Liberalen in Dänemark und Schweden waren denn auch erst möglich, nachdem die dänischen Liberalen sowie die schwedischen Moderaten versprochen hatten, den Sozialstaat nicht anzutasten.
Dieser erste Einblick in den Inhalt des von mir empfohlenen Buchs von Karl-Martin Hentschel mag an dieser Stelle genügen. Im Buch ist natürlich alles ausführlicher beschrieben. Das skandinavische Bildungs- und das Gesundheitssystem ebenso wie das Rentensystem werden beleuchtet. So etwa sind die Rentenbeiträge dort (anders als bei uns) nicht gedeckelt, so dass die Reichen und die Ärmeren prozentual gleich belastet werden. Erkennbar wird, was sich aus den skandinavischen Erfahrungen für die deutsche Föderalismusdiskussion lernen lässt. Auch aus nicht-skandinavischen Ländern werden Beispiele gebracht, die nachahmenswert sind.
Schlussbemerkung
Das Wissen von der überragenden Bedeutung der Kommunen in Skandinavien macht mir Hoffnung, dass es mit der Demokratie in Deutschland nicht immer weiter abwärts gehen muss. Das Beispiel Skandinavien (und auch Schweiz) zeigt, dass es Wege gibt, die Bürger mit ihrem demokratischen Staat zu versöhnen. Diese Versöhnung kann nur gelingen, wenn sich der Bürger nicht von „denen da oben“ verschaukelt fühlt. Er muss sich nicht nur abstrakt, sondern konkret als Teil des Gemeinwesens fühlen können. Wir Bürger interessieren uns für unser Gemeinwesen meist nur dann, wenn wir Einfluss im Sinne unserer unmittelbaren Wünsche, Vorstellungen und Interessen nehmen können.
Wozu brauchen wir den Staat? Er nützt uns nur, wenn er uns vor Ausbeutung und Rechtlosigkeit schützt und wenn er gesellschaftliche Solidarität organisiert. Gesellschaftliche Solidarität ist, wenn sie auf kommunaler Ebene praktiziert wird, kein inhaltsleerer Begriff für Sonntagsreden mehr, sondern gelebte Wirklichkeit, von der sich jeder ein konkretes Bild machen und auf das er sich verlassen kann. Das Engagement der Bürger wirkt sich in einer Kommune, zu deren Kompetenzen die wichtigsten Lebensbereiche gehören, erkennbar aus – ganz im Unterschied zu einem zentralistisch organisierten Staat, wo sich das Engagement der Bürger in der Anonymität verflüchtigt. Der Zentralstaat überfordert seine Bürger mit der Komplexität der Fragen, die auf dieser sehr allgemeinen und kaum zu überblickenden Ebene beantwortet werden müssen. Solcher hohen Komplexität sind nur spezialisierte Politiker und Experten gewachsen. Die wichtigsten Fragen des Gemeinwohls sind nicht komplex, wenn sie auf der kommunalen Ebene organisiert werden. Dort lassen sich sehr gut – transparent und gerecht – regeln mit dem „Nebeneffekt“, dass sich die Bürger für ihr Gemeinwesen interessieren.
Der wachsenden Poliktikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit in unserem zentralistischen Staat lässt sich also etwas entgegensetzen. Die herrschende Verzweiflung an unserem als Scheindemokratie empfundenen Staat kann also noch gewendet werden, wenn wir bereit sind, von den positiven Beispielen aus Skandinavien und aus anderen Ländern dieser Welt zu lernen.
Es gibt allerdings ein schwerwiegendes Gegenargument. Es stützt sich auf folgende These, von der ich nicht weiß, ob sie zutrifft: „Fast alle Bürger interessieren sich nur für ihren privaten Bereich, also nicht wirklich für eine auf das Gemeinwohl zielende Politik, die über die eigenen Interessen hinausgeht und diesen vielleicht sogar widersprechenden kann. Ihr Verhältnis zur Politik ist das eines Zaungastes, der als Mediennutzer von bestimmten Politikbereichen Kenntnis nimmt und sie in unverbindlichem Diskurs kommentiert. Diese politisch nur oberflächlich interessierten Bürger wären auch dann nicht bereit, sich politisch zu engagieren, wenn sie auf kommunaler Ebene viel zu entscheiden hätten.“
Wenn diese These (Vermutung) stimmt, dann wäre unsere bestehende zentral organisierte Demokratie wohl die angemessene Antwort: Ein kleiner Kreis von Politikern – beraten von Experten und Lobbyisten (die kaum voneinander zu unterscheiden sind) – entscheidet, und die Bürger können diese Politiker (Parteien) abwählen. Die „demokratische“ Wahl und Abwahl erfolgt, ohne dass die große Mehrheit der Bürger die komplexen Sachverhalte, die politisch auf hoher Ebene (zentralistisch) entschieden werden, durchschauen will und kann. Gewählt wird, wer sich gut darstellen kann und von den Medien (und den Kräften, die hinter diesen Medien stehen) hinreichend unterstützt wird. Die Möglichkeiten der Bürger, auf die Politik im Sinne des Gemeinwohls Einfluss zu nehmen, würden sich darauf beschränken, im Rahmen von Parteien und Gruppen der kritischen Zivilgesellschaft aktiv zu sein. (dazu siehe Dem7.-, Dem8.- und Dem9.)
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