In Momenten der Klarheit sehe ich mich als Sandkorn. Von Wellen auf irgendeinen Strand gespült – zwischen Milliarden anderer Sandkörner liegend. Dann denke ich: das kluge Sandkorn begnügt sich mit seiner bloßen Existenz und freut sich an ihr. Das kann es, solange es nicht unter einen Haufen Scheiße oder unter die Räder gerät. Damit meine ich, dass die Freude am Leben auch einen Preis verlangt, nämlich „Selbstverteidigung“ : kein Sandkorn will abhängig sein von irgendwelchen anderen Sandkörnern, die ihm das Leben sauer machen können. Wir möchten unabhängig sein von materieller und sonstiger Hilfe. Dieses Ziel verlangt lebenslange Anstrengung und Wachsamkeit.
Viele Sandkörner sind jedoch nicht klug. Sie wollen nicht nur unabhängig existieren, sondern – und hier beginnt das absurde Theater unseres Lebens – sie wollen auch irgendeine Rolle spielen. Sie sind sich, wie das kluge Sandkorn, nicht nur ihrer individuellen und unverwechselbaren Gestalt bewusst, sondern betrachten sich als besonders individuell und besonders unverwechselbar. Diesen besonderen Mehrwert wollen sie zur Geltung bringen. Individualität und Unverwechselbarkeit müssen daher inszeniert werden – und wenn diese Inszenierung gut genug funktioniert, wird sie belohnt, indem der Rollenspieler von den vielen anderen unklugen Sandkörner bewundert wird. Die besten Rollenspieler erzielen auf dem Markt der Eitelkeiten den höchsten Marktwert.
Die unklugen Sandkörner wollen mit ihrem Rollenspiel sich selbst und anderen Sandkörnern beweisen, dass sie nicht nur ein einfaches, sondern ein besonderes Sandkorn sind, vielleicht sogar ein auffälliger und von allen bewunderter Sandstein. Warum wollen sie das? Warum haben sie das nötig? Weil sie unzufrieden sind mit sich in ihrer bloßen Existenz. Sie denken, sie sind nichts wert. Sie meinen, ihrem Wert nachhelfen zu müssen. Wer meint, nichts wert zu sein, inszeniert ein Ich, an das er selbst glauben kann und das auch seine Mitmenschen überzeugt. Er will mehr scheinen als das, was er zu sein meint. Das ist ein trauriger Befund.
Das kluge Sandkorn kann abschätzen, wie viel es besitzt, ob es verlässliche Freunde hat, was es gern und was es ungern tut. Und es wird dann, wenn seinem Wohlergehen etwas im Wege steht, versuchen, so gut es geht dieses Hindernis wegzuräumen oder zu überwinden.
Das unkluge Sandkorn dagegen begnügt sich nicht mit dem Erkennen und Verbessern seiner Situation, sondern beginnt zu vergleichen. Und damit steigt es ein in das absurde Theater. Wie ich aufgezeigt habe, ist dessen Motor eine tiefe seelische Not. Wir meinen, uns mit anderen Menschen vergleichen zu müssen, weil wir nur so unseren Wert erkennen können. Wir definieren uns über Besitzt, Einfluss, Beliebtheit, Konsum – haben wir davon mehr oder weniger als unsere Mitmenschen? Werden wir von den anderen unklugen Sandkörnern anerkannt, vielleicht sogar bewundert? Und damit begeben wir uns in eine Abhängigkeit von Kräften, die wir nicht mehr beherrschen können. Sie beherrschen vielmehr uns.
Die Unterschiede sind nicht wichtig. Aber wir nehmen sie wichtig. Wir bespiegeln uns im Auge anderer Menschen. Was denkt er/sie von mir? Wir bilden uns ein, dass uns ein Mensch schätzt, weil wir uns nach den von ihm und uns geteilten Maßstäben „richtig“ verhalten. Aber diese Maßstäbe sind solche des Wettbewerbs. Sie machen uns zu Abhängigen von den Urteilen anderer. Wenn wir uns als unkluges unter unklugen Sandkörnern bewegen, dann müssen wir immer damit rechnen, abgewertet zu werden. Denn andere Sandkörner wollen sich im Vergleich mit uns aufwerten. Das gehört zum absurden Spiel. Wir setzen uns also einem völlig überflüssigen Dauerstress aus.
Wenn wir unseren Eigenwert als Sandkorn nicht allein in unserer Existenz sehen, also unabhängig von der willkürlichen Bewertung durch andere Sandkörner, dann begeben wir uns auf einen Markt, auf dem wir als Ware gehandelt werden. Unser Wert liegt dann nur noch in den Augen anderer. Und das bedeutet: wir müssen sein, wie sie es von uns erwarten.
Im Extremfall wollen wir sogar berühmt werden. Wem das gelingt, der ist endgültig in die Falle des absurden Theaters getappt. Der wird fast zwangsläufig süchtig nach Anerkennung durch eine anonyme Masse unkluger Sandkörner, die nach Laune ihren Daumen nach oben oder untern strecken. Wohl dem, der nicht berühmt werden will – auch nicht ist wie der Fuchs, der sagt: „die Trauben sind mir zu sauer!“, nachdem er gemerkt hat, dass für ihn die begehrten Trauben zu hoch hängen.
Relativierende Schlussbemerkung: mein Gedankengang bewegt sich in einer Schwarz-Weiß-Schablone (klug-unklug). Natürlich ist das Leben ganz anders – nämlich grau mit vielen Zwischentönen. Mal verhalten wir uns klug, mal unklug. Wir können nicht leben, ohne uns auch an den Erwartungen anderer Menschen zu orientieren. Die Betonung liegt auf „auch“. Bekanntlich kommt es darauf an, Extreme zu vermeiden. zum Inhaltsverzeichnis
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