Die schrecklichen Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris haben vor allem zwei Reaktionen hervorgerufen: Ratlosigkeit einerseits und andererseits den Wunsch, den Terrorismus mit Krieg zu zerschlagen. Vielleicht ist der Krieg nur eine Variante der Ratlosigkeit.
Zunächst zur Ratlosigkeit: Angesichts der Tatsache, dass neun islamistische Terroristen in der Lage sind, mit einer Aktion nicht nur hunderte Menschen zu töten, sondern ein ganzes Volk – mehr noch: Europa und die Welt – in Aufregung und Angst zu versetzen, fällt uns kein geeignetes Mittel ein, in Zukunft ähnliche Massaker zu verhindern. Wir stellen erschaudernd fest: Mit minimalem Aufwand können Terroristen eine gigantische Wirkung erzielen. Selbst bei größtmöglicher Überwachung und Polizeipräsenz wird es immer möglich bleiben, dass sich eine Gruppe ideologisch motivierter Selbstmordattentäter und ihre Hintermänner zusammenfinden, organisieren, bewaffnen, getarnt in der Masse untertauchen – und jederzeit an jedem Ort grausam zuschlagen. Selbst Diktaturen können das nicht verhindern.
Das Terror-Netzwerk verfügt über fanatische Anhänger, die keine Angst kennen und mit Waffen und Kommunikationsmitteln auf höchstem technischem Niveau ausgestattet sind. Als Kopf des Drachens gilt die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ IS, die Gebiete des Irak und Syriens unter ihre Kontrolle gebracht hat und Zulauf erhält von Fanatikern aus der ganzen Welt. Der IS beherrscht ein Gebiet in der Größe Großbritanniens. Aus Arsenalen der irakischen Armee hat er sich Geschütze und Raketenwerfer angeeignet. 30.000 Ausländer sollen in seinen Reihen kämpfen. An der Herrschaft der Terrormilizen haben bisher mehr als 10.000 Angriffe aus der Luft nichts geändert, schreibt die Süddeutsche Zeitung (vom 17.11.15).
Der IS mag eine Art militärischer „Kopf des Drachens“ sein, aber seine Bedeutung für den Terrorismus in Europa wird maßlos überschätzt. Dazu später mehr.
Der IS hat zwar stets seine Anhänger dazu aufgerufen, den Westen mit Anschlägen anzugreifen, wenn es ihnen nicht möglich ist, in das IS-Gebiet auszuwandern. „Dringendstes Anliegen der IS-Ideologie ist es allerdings, dass Moslems zusammenkommen, um das Kalifat zu errichten, damit sie im IS-Land ein tugenhaftes Leben führen können“, schreibt in der SZ vom 18. Nov. Bernard Haykel, Professor für Near Eastern Studies an der Princeton University.
Die islamistischen Terroristen agieren bekanntlich weltweit – auch schon lange bevor vom „Islamischen Staat“ die Rede war. Wer dem Drachen Terrorismus einen Kopf abschlägt, der muss erfahren, dass dem Drachen gleich mehrere neue Köpfe nachwachsen. Gleichwohl wurde und wird in Afghanistan, im Irak und in Syrien Krieg gegen den Terrorismus geführt – nicht anders als gegen einen territorial abgegrenzten Staat. Und nun – nach den Attentaten von Paris – wird überlegt, wie weit diese militärischen Einsätze verstärkt werden sollten.
Terroranschläge, wie sie auch schon in London, Madrid und anderswo viele Tote hinterlassen haben, erzeugen in der Zivilgesellschaft immer eine Welle aus Angst und Wut. Wenn die Regierung des Staates, in dem der Anschlag verübt wurde, angesichts dieser hilflosen Wut nach Vergeltung ruft und einen Rachefeldzug in die Wege leitet, dann findet sie in der Bevölkerung erst mal breite Zustimmung. Das war in den USA nach dem 11. September 2001 nicht anders als wie wir es zurzeit in Frankreich erleben. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ als militärische Intervention ist in meinen Augen nichts anderes als ein die Hilflosigkeit der Politiker kaschierender Aktionismus, der dazu dient, bei der verängstigten Bevölkerung die Illusion zu erzeugen, die Politiker seien Herren des Geschehens.
Aber besser wäre es, zu fragen, warum Menschen zu Terroristen werden. Denn nur wenn wir darauf eine Antwort finden, können wir wirkunsvoll gegen den Terrorismus in Europa vorgehen. In der Süddeutschen Zeitung vom 17. Nov. weist der Politologe Herfried Münkler darauf hin, dass die Terroristen es auf die große Beachtung anlegen, die sie durch ihren Terrorakt finden. Aus Erfahrung wissen wir, dass Terroranschläge nach einiger Zeit in der Bevölkerung wieder vergessen werden. Ein Beispiel dafür sind die Anschläge auf die Vorortzüge in Madrid im Jahr 2004, die noch mehr Todesopfer gefordert haben als die Mordanschläge in Paris. Sie sind in Vergessenheit geraten. Münkler schreibt im Blick auf Paris: „Wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, eine Weile nach einem solchen Anschlag so zu tun, als habe es ihn nicht gegeben, das heißt ihr Leben wieder so aufzunehmen und fortzuführen, wie sie das vorher geplant hat, dann ist das eine Erfahrung des Widerstandleistens und des Abfangens des Angriffs, die ausgesprochen effektiv ist. Weil sich dabei herausstellt, wie schwach doch letzten Endes die angreifenden Akteure sind. Sie sind nur stark in dem Augenblick, in dem wir durch unsere Aufgeregtheit, unsere Nervosität, ja womöglich unsere Hysterie wie Schlagkraftverstärker wirken.“ Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wer kann schon immer dann, wenn er sich in einer Menschenmenge aufhält oder wenn er mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs ist, ruhig und entspannt bleiben, wenn er mit einer Bombe rechnen muss? Den Israelis scheint es inzwischen zu gelingen, trotz der vielen Anschläge in Tel Aviv oder Jerusalem ein „normales“ Leben zu führen.
Wollen wir Krieg gegen den Terrorismus? Und was verstehen wir darunter?
Der französische Präsident, unser Bundespräsident und noch weitere Politiker sprechen vom Krieg, der nun verstärkt im Irak und in Syrien gegen die Terroristen geführt werden müsse – als Antwort auf den „Krieg“, den die Terroristen gegen die demokratische Welt, ihre Werte und ihren Lebensstil führen. In Frankreich wurde für drei Monate der Notstand ausgerufen, also Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Frankreich hat Deutschland und die anderen EU-Länder inzwischen um militärischen Beistand gegen den IS gebeten und Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, hat vorgeschlagen, dass die Bundeswehr dieser Bitte mit Kampfflugzeugen entsprechen solle. Allerdings wehrt er sich dagegen, in diesem Zusammenhang von Krieg zu sprechen, weil das mit der Einführung des Kriegsrechts in Deutschland verbunden sei. Es handele sich bei diesem notwendigen Akt der Solidarität „nur“ um militärische Terrorismusbekämpfung – und diese müsse in Kombination mit anderen Anti-Terrorismus-Maßnahmen noch konsequenter als bisher durchgeführt werden. Er erwähnt als Beispiel die Bombardierung von Lastwagen, die Öl transportieren, mit dem der IS seinen Kampf finanziere.
Schon seit einiger Zeit vor dem Pariser Anschlag führt Frankreich zusammen mit anderen Staaten einen Krieg in Form von Luftangriffen gegen den IS. Daher ist nicht nachvollziehbar, wenn der französische Präsident den Anschlag von Paris als Kriegserklärung des IS versteht und quasi als Verteidigungsmaßnahme befiehlt, dass Militärflugzeuge Bomben auf die „Hochburg des IS“ abwerfen. Der tatsächliche Grund ist, wie gesagt, ein anderer: Hollande will damit seiner verunsicherten Bevölkerung Stärke und die Handlungsbereitschaft seiner Regierung demonstrieren. Die zusätzlichen Luftschläge sind ein Zeichen, mit dem er dem verbreiteten Gefühl der Hilflosigkeit entgegenwirken will.
Das Leid und die ohnmächtige Wut gegen die brutalen Terroristen ist das eine. Etwas anderes ist es, wenn sich Frankreich nun plötzlich als Angriffsopfer des Islamischen Staates sieht. Ein Krieg ist immer zweiseitig. Wer sich im Krieg befindet, der will dem Feind Schaden zufügen, indem er Leben und materielle Güter zerstört. Es sollte also nicht überraschen und keine moralische Empörung hervorrufen, wenn der IS seine Kämpfer nicht nur im eignen Gebiet einsetzt, sondern auch im Gebiet des erklärten Feindes. Die Terroranschläge in der ganzen Welt sind Kriegshandlungen – auch als Antwort auf den „Krieg gegen den Terror“, wie er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von den USA ausgerufen worden ist.
Stefan Ulrich schreibt am 16.11.15 in der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf Frankreich: „Das Land, das die Menschenrechte auf dem Schild führt, aber auch robust eigene Interessen wahrnimmt, intervenierte zuletzt in etlichen islamischen Ländern, in Libyen, Mali, im Irak und in Syrien. Es ist für die Islamisten die verhasste Kolonialmacht, die sich 1916 im Sykes-Picot-Abkommen mit Großbritannien Teile des Osmanischen Reichs unterwarf. Außerdem leben im heutigen Frankreich Millionen von Muslime, von denen sich viele sozial ausgegrenzt fühlen. Der Islamlische Staat sieht da Missionspotenzial.“
Gabor Steingart schreibt am 16. Nov. im Handelsblatt: „Wir werden schonungslos sein’, versicherte auch jetzt wieder ein versteinerter französischer Präsident und schickte in der Nacht von Sonntag auf Montag seine Luftwaffe nach Syrien, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren…Doch der Automatismus von Härte und Gnadenlosigkeit, das vorsätzliche Nicht-Verstehen des anderen, die feurigen Reden an das jeweils heimische Publikum, die schnell in Marsch gesetzten Bombergeschwader haben uns in diesem Kampf der Kulturen dahin gebracht, wo wir heute stehen. So beendet man den Terror nicht, sondern facht ihn weiter an. So schafft man keinen Frieden, so züchtet man Selbstmordattentäter.“
Ischinger ebenso wie die deutsche Verteidigungsministerin fordern Besonnenheit. Das klingt gut – aber was folgt daraus? Worauf müssen wir uns besinnen? Und was wäre ein besonnener Kampf gegen den Terrorismus? Dazu will ich einige Gedanken formulieren.
Eine Vorbemerkung will ich vorausschicken. Es geht bei den Terroristen nicht um „normale“ Muslime, also um Gläubige des Islam, sondern um Islamisten: Personen, die sich einbilden, im Namen des Islam zu kämpfen, jedoch in Wirklichkeit die von ihnen missverstandene Religion als Vorwand benutzen, um ihre verbohrte politische Weltsicht anderen Menschen mit Gewalt überzustülpen. Wenn die Attentäter von Paris und andere islamistische Terroristen sich auf den Islam berufen, dann ist das etwa so glaubwürdig wie wenn der Ku-Klux-Klan sich als christliche Bewegung ausgibt. Wer sich weigert, die gewaltbereite Splittergruppe der Islamisten und ihre Hassprediger von den hunderten Millionen normalen Gläubigen des Islam zu unterscheiden, treibt ein böses Spiel und hat Absichten, vor denen ich nur warnen kann. Gefährliche Fanatiker gibt es in jeder Religion – und das sagt nichts über die jeweilige Religion aus, sondern zeigt nur, dass sich jede Religion missverstehen und missbrauchen lässt. Nun zu den angekündigten Gedanken:
Erstens: Zur Besonnenheit gehört zunächst einmal, sich klar darüber zu werden, was Krieg bedeutet. Bundespräsident Gauck hat kurz nach den Anschlägen von Paris öffentlich den Krieg charakterisiert: „Krieg zerstört umfassend. Er zerstört nicht nur die Städte, die Wege und die Häfen. Krieg verwandelt Lebendige in Tote und hinterlässt in unzähligen Überlebenden tote Seelen.“ Auch militärische Luftschläge sind Teil eines Krieges – auch dann, wenn kein Kriegsrecht ausgerufen wird. Es ist wohl allgemeiner Konsens: Krieg darf nur das allerletzte Mittel sein, wenn alle anderen Mittel der Konfliktlösung versagen. Wir dürfen Krieg nicht mit Verbrechensbekämpfung verwechseln. Wer gegen Terroristen kämpft, der kämpft gegen Verbrecher.
Zweitens: Lässt sich der Kampf gegen den Terrorismus vergleichen mit einem „normalen“ (z.B. zwischenstaatlichen) Konflikt, der friedlich oder militärisch zu lösen ist? Jede „normale“ Konfliktlösung ist mit Kompromissen verbunden. Sind Kompromisse zwischen dem „Islamischen Staat“ und der offenen Gesellschaft und ein friedliches Nebeneinander dieser Konzepte vorstellbar? Stefan Ulrich benennt in dem erwähnten Beitrag die Unvereinbarkeit der Gegensätze: „Hier das Ideal des freien Zusammenlebens freier Menschen, dort die totale Unterwerfung unter den Willen Allahs, den ausgerechnet der IS zu kennen vorgibt.“
Ich denke, dass ein friedliches Nebeneinander möglich ist. Das beweist die Kooperation der westlichen Welt mit Saudi Arabien – einem Land, in dem Salafisten an der Macht sind.
Unter den zeitgenössischen Strömungen des Salafismus zählt (laut Wikipedia) zwar auch eine Richtung, die eine Vereinbarkeit von Islam und Moderne vertritt. Jedoch dominieren konservative Richtungen, welche die Moderne ablehnen und einem Muslim bei Strafe verbieten, einen anderen Glauben anzunehmen. Gemeinsam ist diesen radikalen Strömungen „ein Fundamentalismus im Wortsinne, da viele Jahrhunderte theologischer Entwicklung ignoriert werden, um direkt zu den Quellen Koran und Sunna zurückzugehen.“ Das zumindest für die saudische Bevölkerung verbindliche Gesellschaftsmodell – ein religiöser Fundamentalismus verbunden mit Ablehnung der Glaubensfreiheit, Diktatur der religiösen Führer – ist unvereinbar mit Demokratie und Menschenrechten. Und trotzdem ist ein Nebeneinander Saudi Arabiens mit Staaten möglich, die als modern bezeichnet werden.
Drittens: Wir müssen unterscheiden zwischen Terroristen, die in der arabischen Welt aufgewachsen sind und immer dort gelebt haben, und den Terroristen, die unserem westlichen Kulturkreis entstammen.
Wenn sich Menschen zum Beispiel im Irak dazu entschließen, für den IS zu kämpfen, dann hat das damit zu tun, dass diese Personen glauben, sich gegen eine fremde Besatzungsmacht oder gegen eine von dieser westlichen Macht eingesetzte Marionettenregierung zur Wehr setzen zu müssen. Die USA habe durch ihren militärischen Einsatz, der an einen Elephanten im Porzellanladen erinnert, in das fragile Gleichgewicht dieser Großregion zwischen Sunniten und Schiiten ohne Sinn und Verstand eingegriffen und ein Chaos verursacht. Das ist vielleicht der Hauptgrund für das Entstehen des „Islamischen Staates“.
Die meisten Terroristen, die uns in Schrecken versetzen, kommen aus unserem eigenen Kulturkreis. Was sind das für Menschen, was motiviert sie?
Es sind Menschen, die von einer tiefen Überzeugung, einer Ideologie, durchdrungen sind. Sie meinen, sie seien von Gott berufen, seinen Willen in der Welt durchzusetzen. Sie denken, dass sie diesen Willen kennen, nachdem ein religiös Kundiger (ein Prediger) aus dem Koran für sie diesen Willen herausgelesen und erläutert hat. Sie verstehen sich als Werkzeug einer höheren (göttlichen) Macht. Und sie fühlen sich berufen, die Nicht-Gläubigen zum „rechten Glauben“ zu führen und sie vor denen zu beschützen, die ihrem „rechten Glauben“ im Wege stehen.
Für diese Leute bedeutet das Bekenntnis zu „westlichen Werten“ ein Abfallen von Gott – mehr noch: ein Angriff auf ihren Gott. Weltliche Gerichtsbarkeit, das Vertrauen auf die Urteilskraft des mit Vernunft begabten Menschen, die Gewissensfreiheit, die Freiheit, sich einen eigenen Reim auf das Leben zu machen und selbst zu bestimmen, wie man leben möchte, die weltanschauliche Pluralität – all das sind für diese fanatische Splittergruppe Werke des Teufels, der die Gläubigen vom rechten Weg abbringen will. So ist erklärbar, warum sie in Paris die angeblich sündigen Menschen zum Beispiel in Cafés, auf Einkaufsstraßen und in einem Konzertsaal suchten und töteten. Der westliche Lebensstil ist in ihren Augen die große Versuchung, von dem Gott abzufallen, wie sie sich ihn vorstellen.
Die nächste Frage ist, wie es dazu kommen kann, dass junge Menschen sich von irgendwelchen Hasspredigern solche Vorstellungen in den Kopf und ins Gemüt setzen lassen. Warum lassen sich junge Menschen für den Terrorismus gewinnen?
Erste Erklärung: Jugendliche suchen nach Sinn im Leben. Sie sehen, wie in ihrer Umgebung so vieles falsch läuft, erleben Ungerechtigkeit, Unehrlichkeit, Scheinheiligkeit, große aber hohle Sprüche – und sie sehnen sich nach klaren Antworten, nach eindeutigen Lösungen. Entsprechend anfällig sind sie für radikale Ideen vom Guten. Sie glauben Menschen, die ihnen glaubwürdig erscheinen. Diese werden für sie zu Autoritäten, deren Worte sind für sie „die Wahrheit“. Der in Deutschland lebende muslimische Palestinenser Ahmed Mansour, der früher selbst ein Islamist war, sagt zur Anfälligkeit deutscher Muslime gegenüber radikalen Salafisten: „Salafisten sind die besseren Sozialarbeiter. Sie füllen den sinnlosen Alltag solcher orientierungslosen Jugendlichen mit Sinn. Und geben ihnen das Gefühl, einer Elite anzugehören….Wenn wir uns nicht um die Jugendlichen kümmern, die sich von den Salafisten umgarnen lassen, haben wir hier in zwei, drei Jahren Pariser Verhältnisse.“ (Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2015)
Zweite Erklärung: Sie fühlen sich einer Menschengruppe – den Muslimen – zugehörig, die in Europa diskriminiert wird. Sie erleben sich missachtet und gedemütigt. Sie haben nicht die gleichen Chancen, sich beruflich so zu entwickeln wie die meisten ihrer nicht-muslimischen Altersgenossen es können, wenn sie sich anstrengen. Das macht bitter und zornig. Je mehr sie unter ihrem Status zu leiden haben, desto mehr identifizieren sie sich mit ihren Schicksalsgenossen. Das Gemeinsame ist ihre Religion oder zumindest ihre Abstammung. Und sie verachten diejenigen aus ihrer religiösen/ ethnischen Großgruppe, die sich anpassen, sich alles gefallen lassen, ihre Diskriminierung erdulden statt sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Dritte Erklärung: Sie sind voller Energie, können mit dieser Energie jedoch nicht konstruktiv ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, können ihr Leben nicht selbstbewusst gestalten, sondern rennen gegen Mauern. Denn ihnen fehlen wichtige Voraussetzungen, erfolgreich zu sein: eine gute Ausbildung und ein Arbeitsplatz. Sie wollen trotzdem bei ihren Freunden anerkannt sein, also tun sie das, was in der Gruppe Bewunderung auslöst: sie profilieren sich über kleinkriminelle „Taten“ und über den Umgang mit Drogen. Das befriedigt sie auf Dauer nicht wirklich. Umso ansprechbarer werden sie für Lebensinhalte, die ihnen von religiösen Autoritäten (hier: Hasspredigern) angeboten werden.
Manchmal trifft eine dieser Erklärungen zu, manchmal ist es vielleicht eine Kombination aus den hier knapp skizzierten Erklärungen (Bausteinen). Das ist die Grundlage, auf der sich bei jungen Männern und Frauen eine Affinität zum Terrorismus herausbildet. Das ist der „Nährboden“ für die Neigung, sich den Sprüchen von salafistischen „Missionaren“ und Hasspredigern zu öffnen. Sie können sich nun mit einer Gruppe (zusammen mit den anderen Schülern des religiösen Lehrers) identifizieren, die weiß was sie will, die stark ist. Das schafft ein besonderes Image – bei den Freunden, die sich nicht trauen. Die Mitglieder des „geheimen Ordens“ sind bereit, sich für eine höhere Sache zu opfern. Das tun nur Helden, die den Tod nicht fürchten. Und im Jenseits erwartet sie eine Belohnung.
Wir „Normalos“ in Europa leben in einer postheroischen Gesellschaft. Das war nicht immer so. In den Zeiten des Idealismus sagte Friedrich Schiller noch: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“
Meine Erklärungen, die ich hier gebe, können vielleicht helfen zu verstehen, warum sich junge Menschen zum Terrorismus verleiten lassen, können vielleicht dazu beitragen, eine richtige Strategie gegen den Zulauf zu den Terroristen aus unserem eigenen Kulturkreis zu finden. Aber billigen können wir das Verhalten der Terroristen deswegen natürlich noch lange nicht. Auch wenn es plausible Erklärungen für das Denken und Handeln der Terroristen gibt, müssen wir mit allen rechtsstaatlichen Mitteln die Terroristen verfolgen und sie vom Morden abhalten.
Was ist langfristig und kurzfristig zu tun?
Eine langfristige Strategie muss damit beginnen, die Voraussetzungen für eine vollständige Integration der Muslime zu schaffen. Muslime müssen gleichberechtigt sein, nicht nur vor dem Gesetz. Jeder von ihnen muss gute Chancen haben, ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft zu werden: eine angemessene Ausbildung und Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen – ohne jede Diskriminierung. Zu dieser Strategie gehört auch die Überwachung von Predigern, die umgehend auszuweisen sind, wenn sie bei der Auslegung des Koran die im Grundgesetz festgelegten Maßstäbe nicht beachten. Und die in den islamischen Ländern und bei den islamischen Verbänden in Europa vorherrschende Interpretation des Koran muss sich ändern, muss anerkennen, dass die Worte Alahs nicht wortwörtlich als Gesetz verstanden werden dürfen. Die religiösen Führer müssen sich den Ideen der Aufklärung öffnen und nicht – wie bisher – den Gläubigen vormoderne Denk- und Verhaltensmuster propagieren. Die vollständige Integration ist allerdings eine Aufgabe, die nur langfristig zu lösen ist.
Wir müssen aber auch kurzfristig alles tun, den Terroristen ihr Handwerk zu legen. Aber wie? Wenn wir das Falsche tun, dann riskieren wir, dass wir den Terrorismus fördern statt ihn zu besiegen.
Eine Reaktion halte ich auf jeden Fall für falsch: zu versuchen, mit militärischen Mitteln – Bomben, Luftangriffen, Bodentruppen – den IS in dem von ihm besetzten Gebiet besiegen zu wollen. Ähnliches hat man im Irak und in Afghanistan erfolglos versucht und damit das Gegenteil erreicht: der Terrorismus hat sich ausgeweitet, ist stärker geworden, hat zusätzliche Unterstützer gewonnen, den Hass verstärkt. Denn der Nachteil militärischer Siege ist, dass sie meist nicht die Köpfe der Besiegten erreichen, sondern deren Radikalität bestärken oder gar hervorrufen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit einem international agierenden Netzwerk terroristischer Gruppen zu tun haben. Die lassen sich nicht kleinkriegen, indem Territorien besetzt werden. Wie gesagt: wenn diesem Drachen ein Kopf abgeschlagen wird, wachsen ihm mehrere nach.
Mein Vorschlag: der Kampf gegen Terroristen muss in erster Linie über Geheimdienste und über die Polizei geführt werden – natürlich in länderübergreifender Zusammenarbeit. Den Terroristen muss es so schwer wie möglich gemacht werden, Menschen auf ihre Seite zu ziehen und Andersdenkende zu töten. Geheimdienste und Polizei müssen als Anti-Terror-Sondereinheiten gezielt ausgebildet und ausgestattet werden. Sie sind defensiv orientiert. Sie schüren in fremden Kulturkreisen keinen Hass – anders als militärische Interventionen, die darauf aus sind, den Gegner zu unterwerfen, indem sie sein Land besetzen. Ein solcher Eroberungskrieg (immer als Verteidigungskrieg deklariert) trifft nicht nur die Islamisten, sondern auch die normale Bevölkerung, die oft gar nicht befreit werden will.
Und es muss darüber hinaus alles getan werden, damit die „Erfolgsgeschichte“ des IS, die so viele junge Leute zum Mitkämpfen motiviert, ein Ende findet. Hier und nur hier ist das Militär gefragt. Dem Militär sollte allein die Aufgabe zufallen, Sicherheitszonen um die vom IS besetzten Gebiete herum zu verteidigen. Ziel muss es sein, dass die vom IS beherrschten Regionen nicht größer werden. Denn die Anziehungskraft des IS wird zum großen Teil durch das Wachstum seiner Gebiete genährt. Wenn der IS nicht mehr expandieren kann, wird er sich nicht sehr lange halten können, denke ich. Oder er wird zu einem „normalen“ Staat ähnlich Saudi Arabien.
Das eingreifende Militär darf allerdings nicht in den Verdacht geraten, den wirtschaftlich-strategischen Interessen von Großmächten zu dienen. Seine Aufgabe besteht ausschließlich darin, die Sicherheitszonen zu schützen. Daher sollten die Truppen der UNO unterstellt werden, nicht den USA, Russland und/ oder der NATO. Die Truppen und Waffen (und was sonst so gebraucht wird) werden von den Staaten gestellt, die sich selbst und die ganze Welt vor dem Terror wirkungsvoll schützen wollen. Der Krieg gegen den IS darf kein Stellvertreterkrieg sein.
Ein schwerwiegender Einwand liegt auf der Hand: Wenn das Militär nur die Sicherheitszonen rund um die von den Terrormilizen beherrschten Gebieten schützt, dann werden diejenigen ihrem Schicksal überlassen, die sich im Machtbereich des IS befinden. Ich meine, das ist das kleinere Übel im Vergleich mit einem Krieg, der tausenden und abertausenden Menschen das Leben kosten würde und dessen Ausgang völlig unsicher bleibt. Auch heute schon finden wir uns mit Diktaturen ab, weil es einfach nicht möglich ist, dort von außen Menschenrechte und Demokratie durchzusetzen.
Es wäre schön, wenn über meine Vorschläge dort nachgedacht würde, wo die politischen Entscheidungen zum Abwehr des Terrorismus vorbereitet werden – wo auch die Frage zu beantworten ist, wie der so genannte (meist falsch verstandene) „Krieg gegen den Terrorismus“ geführt werden soll. Kriege gegen Länder (Territorien) gießen nur Öl ins Feuer, denke ich. Sie heizen Hass an, wo Beruhigung nötig ist. Wir müssen die Geduld aufbringen und auf friedliche Prozesse vertrauen, die Diktaturen und Terrorismus letztlich überwinden.
Schlussbemerkung: Es wird noch lange das Risiko von Terroranschlägen geben – auch dann, wenn meine Vorschläge befolgt und weitere sinnvolle Maßnahmen zur Eindämmung von Terrorismus ergriffen werden. Die offene Gesellschaft, in der wir leben, und unser freiheitlicher Lebensstil vertragen sich nicht mit Totalüberwachung. Etwas mehr Sicherheitsmaßnahmen als bisher können wir verkraften. Sie müssen den Charakter unserer Kultur, die sich auf Menschenwürde und Respekt vor dem Fremden gründet, nicht gefährden. Wie viel Freiheit und wie viel Sicherheit wir uns in konkreten Gefahrenlagen erlauben, muss von Fall zu Fall abgewogen werden. Zurück zum Inhaltsverzeichnis
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