Jeder von uns hat in seinem Leben viel Angst. Ich denke jetzt nicht an die Angst vor Spinnen oder Schlangen, vor einem Verkehrsunfall, einer schweren Krankheit bei entsprechenden Symptomen (etwa vor Krebst, Depression, Demenz), vor einem Überfall auf dunkler Straße oder vor einem drohenden Krieg, sondern an eine ganz bestimmte Angst, die ich „soziale Angst“ nenne. Das ist die Angst, nicht mehr dazu zu gehören, ausgeschlossen zu werden aus einer Gemeinschaft, ausgelacht zu werden, als blöd zu gelten, unangenehm aufzufallen.
Ich meine hier also nicht eine übertriebene soziale Angst im Sinne einer krankhaften Phobie, sondern die ganz normale „soziale Angst“, die jeder hat. Wer sie nicht hat, ist kein Mensch, behaupte ich mal. Es kommt natürlich darauf an, wie heftig diese Angst uns zusetzt und ob es uns gelingt, diese immer gegenwärtige Angst irgendwie in den Griff zu bekommen, damit für unsere Individualität noch genug Luft bleibt.
Um unsere soziale Angst zu mindern, passen wir uns an das an, was von uns erwartet wird. Oder wir verstecken uns hinter einer Maske vor unseren Freunden, Bekannten und Kollegen. Anpassung und Unaufrichtigkeit trennen uns von dem, wie wir eigentlich sind. Weil diese Verhaltensweisen unser Selbstbild von einer eigenständigen Person verletzen – und das tut unserer Seele weh – verleugnen wir diese Schwächen oft auch vor uns selbst.
Ich will der aufgeworfenen Frage nachgehen: Warum fällt uns unangepasstes Verhalten schwer?
Unsere persönliche Sozialisation ist eine Geschichte der Anpassung an das, was uns als Kinder prägt. Als Kinder übernehmen wir zunächst kritiklos die Normen und Verhaltensweisen, die wir bei denen beobachten, die uns nahe stehen und für uns Autoritäten sind. Erst in späteren Jahren, beginnend mit der Pubertät, entwickeln wir mehr oder weniger unsere Eigenständigkeit und ein individuelles Selbstbild. Woran orientieren wir uns dabei?
Es gibt, so meine ich, ein Grundbedürfnis, das ganz allgemein den größten Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Verhalten ausübt und immer eine Rolle spielt, wenn es um die Frage geht: wollen wir uns an eine Erwartung anpassen, einem auf uns ausgeübten Druck nachgeben oder nicht? Mit diesem grundlegenden Bedürfnis meine ich unser elementares Verlangen nach Anerkennung in der Gemeinschaft, in der wir leben.
Dieses elementare Bedürfnis ist stammesgeschichtlich verankert. Wir Menschen sind ein Gruppen- und Gemeinschaftswesen, wie es z.B. auch die Wölfe und Schafe sind. Außerhalb des Rudels oder der Herde ist ein bisher zu dieser „Gemeinschaft“ gehöriges Tier schutzlos tödlichen Gefahren ausgeliefert. In jedem von uns steckt – mehr oder weniger bewusst – eine tiefe Angst davor, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
Diese Angst steht in einem Spannungsverhältnis zu unserem mehr oder weniger ausgeprägten Wunsch, ein von anderen Menschen unterscheidbares Individuum zu sein: eigenständig, dem eigenen Wollen folgend, das eigene Leben unabhängig gestaltend, dem Gruppendruck widerstehend.
Wir wissen: Wer in der Gemeinschaft anerkannt ist, wird aus ihr nicht ausgeschlossen. Wir suchen und finden diese Anerkennung, indem wir die Normen erfüllen, die in der Gruppe gelten. Verletzen wie den Gruppenkonsens, dann fürchten wir instinktiv und mehr oder weniger unbewusst, dass wir aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss reicht in der Geschichte bis hin zu gerichtlicher Verurteilung, Ausweisung aus der Heimat, Verfolgung, Gefängnis und Todesdrohung.
So weit geht es bei uns nicht. Aber jeder von uns leidet darunter, wenn er merkt, nicht mehr „dazu zu gehören“. Wir wollen nicht, dass man hinter vorgehaltener Hand schlecht über uns redet. Wir fürchten, von den Menschen „unserer“ Gruppe abgelehnt und missachtet zu werden. Das reicht von der kleinen, überschaubaren Gemeinschaft, deren Mitglieder wir persönlich kennen (Freundes- und Bekanntenkreis, Arbeitskollegen, Verein…) über große weitgehend anonyme Gemeinschaften (Interessen- oder Berufsgemeinschaft, politische oder weltanschauliche Gruppierung) bis hin zum allgemeinen Mainstream. Was „man“ denkt, was „man“ für angesagt oder verwerflich hält, ist uns keineswegs gleichgültig. Prominente, die etwas Ungewöhnliches gesagt oder getan haben, wollen im Internet nicht in einen „shitstorm“ geraten.
Da wir in der modernen „offenen Gesellschaft“ nicht alle den gleichen Normen unterworfen sind, orientieren wir uns vor allem an „unserer Gruppe“, passen uns also daran an, wie „man“ sich dort kleidet, wie man sich dort sprachlich ausdrückt, welche Manieren dort angesagt sind, was dort als „guter Geschmack“ gilt. Dabei kann unsere Konformität mit einer bestimmten Gruppe durchaus im Widerspruch stehen zur Konformität mit einer anderen Gruppe, zu der wir ebenfalls gehören.
Ganz allgemein würde ich sagen: Wir wollen keinen Anstoß erregen bei Menschen, an deren Urteil uns etwas liegt. Wir leiden darunter, wenn unser Verhalten missbilligt wird, wollen nicht verspottet, ausgelacht oder gar verachtet werden. Wir fürchten uns davor, dass „man“ sich von uns als Person distanziert – und diese Furcht ist umso größer, je mehr uns die Gemeinschaft bedeutet, der wir uns zugehörig fühlen.
Ein Beispiel aus den reichen Industrieländern: Wer arbeitslos wird und in Armut gerät, der hat nicht nur das Problem, dass er sich nun materiell einschränken muss, sondern sein Problem ist der „soziale Abstieg“: er kann sich nicht mehr den in seinem Bekanntenkreis gängigen Lebensstil leisten, fürchtet, in seinem persönlichen Umfeld nicht mehr so wie früher respektiert oder sogar offen abgelehnt zu werden, fürchtet, als Versager zu gelten. Nebenbemerkung: Das hängt natürlich vom Umfeld ab. Wer in einem Land oder Stadtteil lebt, wo Arbeitslosigkeit und Armut sehr stark verbreitet („normal“) sind, der hat das Problem der sozialen Ausgrenzung weniger, sondern „nur“ das Problem des Mangels an Dingen, die für ihn wichtig sind aber Geld kosten, das er nicht mehr hat.
Anpassung kann auch positiv sein.
Die Tatsache, dass wir in so starkem Maße auf Anerkennung angewiesen sind, ist nicht nur der wichtigste Grund dafür, dass uns, die wir auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit viel Wert legen, unangepasstes Verhalten so schwer fällt. Diese Tatsache hat auch eine Seite, in der wir Anpassung als etwas Positives sehen: die Wichtigkeit von Anpassung.
Diese Anpassung lernen wir im Laufe unserer Sozialisation. Je schwächer wir sind, desto lebenswichtiger ist für uns die Fähigkeit zur Anpassung. Das hilflose Kind hat keine andere Wahl, als sich den Ansprüchen seiner Bezugspersonen anzupassen. Je älter wir werden und je mehr wir materiell „auf eigenen Beinen“ stehen, desto unabhängiger werden wir von den Ansprüchen und Forderungen anderer Menschen.
Das Kind hat trotz seiner Abhängigkeit eine ausgeprägte Vorstellung von dem, was es will. Es will ein bestimmtes Spielzeug, es will nicht aufräumen. Es will oft nicht das tun, was die Eltern von ihm verlangen. Es schreit und weint, wenn ihm bestimmte Bedürfnisse nicht gewährt werden. Dabei folgt es seinen spontanen Eingebungen. Es ist nicht in der Lage, seine Wünsche zu reflektieren. Aber es lernt allmählich, sich den Widerständen anzupassen. Es muss sich dem Willen der Eltern fügen, wenn diese darauf bestehen.
Durch den Zusammenstoß mit widerständigen Realitäten entsteht nach und nach Realitätsbewusstsein. Das Kind und später der Pubertierende und schließlich der junge, von den Eltern noch abhängige Mensch entwickelt in der Auseinandersetzung mit der Realität ein Bild von sich – empfindet sich als Individuum mit dem Anspruch auf Eigenständigkeit. In diesem Prozess verortet sich der Mensch in seiner Welt: Er findet sich, seine Bedeutung, seine Sicht auf die Welt und die Rollen, die er in ihr spielt und spielen will. Mit zunehmendem Alter verfestigt sich sein Selbstbild – und er muss in vielen Situationen entscheiden, ob und wie weit er es gegen Widerstände verteidigen oder sich anpassen will.
Die Anpassung geht also der Nicht-Anpassung voraus. Erst wenn der Mensch gelernt hat, sich anzupassen, wenn er „seinen Platz“ gefunden hat, kann er bewusst und reflektiert zu einem unangepassten Verhalten finden. Wenn wir vom „eigentlichen Wollen“ einer Person sprechen, dann meinen wir also nicht das sture und eigensinnige Festhalten an einem beliebigen heiß gehegten Wunsch (wie es ein Kind tut), sondern dann geht es um Grundstrukturen unseres Selbstbildes – um das, was uns als Individuum vor uns selbst und vor unseren Mitmenschen erkennbar macht.
Steben nach höherem Status
Unser elementares Bedürfnis nach Anerkennung hat noch eine weitere Seite: die große Bedeutung, die wir in unserem Selbstbild dem erreichten Status beimessen. Denn bloße Anerkennung als „normales Glied der Gemeinschaft“ reicht uns (leider) oft nicht. Wir wollen nicht nur Anerkennung, um aus der Gruppe nicht ausgeschlossen zu werden, sondern wir versuchen meist auch, in der Gruppe einen höheren Status zu erreichen. Wir gewinnen solche zusätzliche Anerkennung, indem wir etwas sagen oder tun, das im Rahmen der anerkannten Normen als besondere Leistung gilt. Wir „steigen auf“ in der Hierarchie, die in jeder Gruppe mehr oder weniger explizit besteht.
Das Status-Motiv ist der Hauptmotor unseres Strebens nach Ruhm, Reichtum und Macht. Der Feldherr eines Söldnerheeres will die Schlacht gewinnen, weil das seinen Ruhm begründen oder mehren kann. Der Unternehmer misst seinen Erfolg am erwirtschafteten Reichtum, weil in der Gesellschaft die Wertschätzung seiner Mitglieder in hohem Maße vom Umfang des Eigentums abhängt. In der Gruppe der Gleichgesinnten gewinnt der erfolgreiche Verbrecher, der nicht ertappt wurde, einen deutlich höheren Status als der Kleinkriminelle, der im Gefängnis gelandet ist.
Im Beitrag 9 und Beitrag 15 sind weitere Gedanken zu diesem Thema ausgeführt. zum Inhaltsverzeichnis
Die Gedanken zur Anpassung finde ich sehr lesenswert – und möchte sie ergänzen: Wie entsteht gesellschaftlicher Fortschritt bzw. Rückschritt? Wenn wir davon ausgehen, dass wir Menschen in der Gruppe, zu der wir gehören (in unserer Gesellschaft) anerkannt sein und daher die Erwartungen an uns so weit möglich erfüllen wollen, dann hängt alles an den in der Gesellschaft gültigen Maßstäben, nach denen „richtig“ und „falsch“, gelungen oder misslungen beurteilt wird. Wer sich stark genug fühlt, der wird – zusammen mit Mitstreitern – versuchen, diese Maßstäbe zu verändern. Statt sich an fremde Erwartungen anzupassen, wird er eigene Erwartungen formulieren. Je mehr Einfluss er mit seinen Anhängern hat, desto erfolgreicher wird er die Maßstäbe in seinem Sinn verändern können – in welcher Richtung auch immer. Das wäre das Gegenteil von sozialer Anpassung: soziale Gestaltungskraft.