Wir leben in Deutschland in einer Sozialen Marktwirtschaft, die in unserem Grundgesetzt verankert ist. Die Idee dieser Wirtschaftsordnung ist die Zähmung und Einhegung eines freien Marktes. Denn ein ungezügelter Markt verursacht zwangsläufig große soziale Probleme. Wie stabil sind soziale und ökologische Standards, wenn sich die Dynamik der Märkte gegen sie richtet?
Zurzeit erleben wir, wie die soziale Komponente der Marktwirtschaft sogar in Deutschland (von den südeuropäischen Staaten ganz zu schweigen) erheblich unter Druck geraten ist. Immer mehr Menschen fragen sich, warum trotz ständig steigender Produktivität der Wirtschaft die durchschnittlichen Einkommen der Beschäftigten sei vielen Jahren stagnieren und der Kampf um Arbeitsplätze mit hinreichend hohem und sicherem Einkommen immer härter wird. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auf einem hohen Niveau und lässt die Menschen erzittern, die um ihren Arbeitsplatz fürchten. Und wer einen Arbeitplatz will, der stellt möglichst keine Forderungen. Was ist da los?
Bevor ich zur Frage komme (siehe nächster Beitrag), welche Zwänge der Markt ausübt – auch auf das Handeln der Wirtschaftselite und der anderen gesellschaftlich mächtigen Akteure – möchte ich einige skizzenhafte Bemerkungen zur geschichtlichen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland machen.
Wer unsere Wirtschaftsordnung sehr kritisch sieht oder ablehnt, benutzt gern den Kampfbegriff „Kapitalismus“. Befürworter sprechen eher von „Marktwirtschaft“. Ich werde die Bezeichnungen „Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“ synonym verwenden. Egal wer welche Bezeichnung bevorzugt: niemand bestreitet, dass die marktwirtschaftliche / kapitalistische Wirtschaftsordnung sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die entscheidende Frage ist doch die: Wie frei beziehungsweise auf welche Weise reguliert muss die Wirtschaft sein, damit sie Wohlstand hervorbringt, an dessen Schaffung alle Menschen teilnehmen und an dem alle angemessen teilhaben können.
Eine Marktwirtschaft ohne soziale und ökologische Zügel – politische Regelungen – ist wirtschaftlicher Darwinismus pur: der Starke, Erfolgreiche verdrängt den wirtschaftlich Schwächeren. Das hatte sich im neunzehnten Jahrhundert sehr hart ausgewirkt (die gegenwärtigen Zustände in Griechenland erinnern daran).
Als Karl Marx sein „Kapital“ schrieb und zusammen mit Friedrich Engels das kommunistische Manifest verfasste, war die frühindustrielle Gesellschaft dem ungebändigten Markt ausgeliefert – mit der Folge schrecklicher sozialer Zustände. Der Mensch war ohnmächtige Verfügungsmasse für die Unternehmen. Der „Kapitalismus“ zeigte seine übelste Fratze.
Nach Aufständen der entrechteten und ausgebeuteten Arbeiter, die sich organisierten, wurden Sozialgesetze erlassen, die ein Minimum an sozialer Absicherung boten. Gewerkschaften erkämpften höhere Löhne.
In der Weimarer Republik hat Deutschland erfahren müssen, dass der zu wenig regulierte Markt in eine Weltwirtschaftskrise führte. Eine unvorstellbar große Massenarbeitslosigkeit ohne erwähnenswertes soziales Netz (in Kombination mit anderen Ursachen, auf die ich hier nicht eingehen will) spülte Hitler an die Macht. Extrem rechte und extrem linke Parteien hatten diese Machtergreifung vorbereitet, indem sie sich in ihrer Ablehnung der repräsentativen Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung einig waren und das Parlament als unfähige „Quasselbude“ verspotteten. Sehr viele Menschen erhofften sich damals vom „Führer“ einen Ausweg aus der Not. Sie lehnten die von der extremen Linken angebotene Alternative zur Demokratie ab: den Sozialismus, der sie angesichts der sowjetischen Machthaber Lenin und Stalin abschreckte.
Zu welchen Verbrechen Hitler und seine Leute fähig waren, ahnten damals nur wenige. Ich möchte darauf hier nicht eingehen, sondern nur festhalten: es war eine aus dem Ruder gelaufene Wirtschaft, die in ihrer nicht beherrschbaren Eigendynamik in die Krise kam und damit maßgeblich zu den Folgen – Diktatur, Krieg und Massenvernichtung – beigetragen hat. Die unvorstellbar bösen Konsequenzen mussten hunderte Millionen Menschen mit ihrem Tod, mit dem Verlust von Heimat und Eigentum und mit bitterer psychischer und physischer Not tragen.
Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland sein „Wirtschaftswunder“. Das Angebot an Arbeitsplätzen stieg zunächst mehr als die Nachfrage danach, so dass die Gewerkschaften gemäß der steil wachsenden Produktivität mit den Arbeitgebern gute Lohnabschlüsse aushandeln konnten. Der Bundestag stärkte bei günstigem Wirtschaftsklima mit wichtigen Sozialgesetzen die soziale Komponente der Marktwirtschaft. Die von Marx vorausgesehene „Verelendung der Massen“ blieb aus. Die Arbeiter und Angestellten konnten von einem Teil ihres Einkommens Ersparnisse bilden. Viele von ihnen leisteten sich zum Beispiel ein Eigenheim. Großen Teilen der arbeitenden Bevölkerung gelang ein beruflicher Aufstieg.
Diese Zeit wird gern als „Rheinischer Kapitalismus“ bezeichnet. Die Marktkräfte wirkten nicht anonym, sondern ließen sich mit bekannten Persönlichkeiten in Zusammenhang bringen, die sich gegenüber der Politik rechtfertigen mussten. Die Zeit war vom „Kalten Krieg“ gekennzeichnet. Hinter dem „eisernen Vorhang“ hatte sich in Osteuropa, Russland, China und anderen Ländern die sozialistische Wirtschaftsordnung mit Planwirtschaft und Einparteien etabliert. Die sozialistischen und die kapitalistischen Staaten standen in einer Art „Konkurrenz der Systeme“ gegeneinander und wetteiferten darum, wer mehr Wohlstand und soziale Sicherheit schaffen konnte. In den 1970ger Jahren hatte sich eine relativ starke kapitalismuskritische Studentenbewegung gebildet, die auf die Stimmung der gesamten Gesellschaft ausstrahlte und die Politik beeinflusste. Der Ausbau des Sozialstaats in Deutschland zu dieser Zeit hatte also auch einen Grund im Bestreben der politischen und wirtschaftlichen Eliten, der Bevölkerung die Überlegenheit der Sozialen Marktwirtschaft über die sozialistische Planwirtschaft vor Augen zu führen.
Dieser Grund entfiel nach dem Fall der Mauer. In den 1990er Jahren und in den folgenden zwei Jahrzehnten haben sich wichtige Veränderungen in den politischen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und in den wirtschaftspolitischen Strategien vollzogen: die Öffnung der Güter- und Finanzmärkte weltweit (wirtschaftliche Globalisierung) und – vorangetrieben durch einschlägige Programme von Thatcher und Reagan – der Sieg der neoliberalen („neoklassischen“) Glaubensüberzeugung („Wirtschaftstheorie“) mit seinem Bekenntnis zum feien Markt und zum schwachen Staat.
Politiker stellten nun die Weichen in Richtung Liberalisierung der Finanz- und Güterströme über alle Grenzen hinweg (Abbau von Zöllen, Kontingenten und Kapitalverkehrskontrollen), Deregulierung (Aufweichung Standards sozialer Rücksichtnahme) und Privatisierung von bislang am Gemeinwohl orientierten kommunalen und staatlichen Unternehmen etwa in den Bereichen Mobilität, Wasser- und Energieversorgung, Bildung und Gesundheit. Seitdem hat sich der globale Standortwettbewerb zum herrschenden Beurteilungsmaßstab entwickelt, wenn es darum geht, welche in der Diskussion stehenden Sozial- und Umwelt-Gesetze aus der Sicht der Wirtschaft tragbar sind oder nicht.
Nun sind wir in der Gegenwart angekommen und bei der zentralen Frage: Welchen Zwängen unterliegen Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der neoliberalen Globalisierung? Darauf werde ich im folgenden Beitrag eingehen. zum Inhaltsverzeichnis
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