Wenn wir von „Sachzwängen“ sprechen, dann meinen wir die Macht zurückliegender Entscheidungen, an die wir gebunden sind und deren Folgen wir zu tragen haben. Es gibt den Spruch: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, der einiges für sich hat. Dann stellt sich die Frage, ob ein Zurück zum Ausgangspunkt möglich ist. Das ist dann so als hätten wir als Autofahrer das Schild „Sackgasse“ übersehen und erst nach dreihundert Metern bemerkt, dass wir auf dieser Straße nicht weiterkommen.
Im vorigen Beitrag (und auch schon davor) habe ich die neoliberale Globalisierung erwähnt. Auf diese „Straße“ sind wir vor etwa dreißig Jahren (seit Thatcher und Reagan) eingebogen. Seit der Öffnung der Märkte (Liberalisierung, Deregulierung), die Schritt für Schritt weltweit vollzogen wird, ist ein Weltmarkt entstanden, auf dem sich jedes große Unternehmen behaupten muss – ohne den früher möglichen Schutz durch Zölle, Kontingente, Kapitalverkehrskontrollen. Die Produktpreise sind über die Leitwährung Dollar weltweit unmittelbar vergleichbar. Das Unternehmen im Lande X muss in der Qualität und im Preis der von ihm produzierten und angebotenen Güter und Dienstleistungen mindestens so attraktiv sein wie seine Konkurrenten in den anderen Teilen der Welt, um wirtschaftlich überleben zu können.
Es ist leicht einzusehen, dass es bei diesem Wettbewerb entscheidend auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ankommt, denen ein Unternehmen dabei unterworfen ist. Ich meine die Rahmenbedingungen, von denen der Preis und die Qualität seiner Produkte abhängen. Bei der Qualität kommt es auf den Ideenreichtum und die Intelligenz der Betriebsangehörigen an (Forschung, Produktentwicklung) und/ oder auf die Möglichkeit, geeignete Patente zu erwerben. Beim Preis kommt es darauf an, wie hoch für das Unternehmen die Kosten für die Produktionsfaktoren Arbeit (Löhne, Gehälter), Kapital (Finanzierung von Investitionen) und Boden (Grundstückspreis, Preis für Ressourcen wie Energie und Rohstoffe) sind.
Diese Rahmenbedingungen hängen sehr stark von der Politik – den wirtschaftsrelevanten Gesetzen – des Landes ab, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Die Arbeitskosten werden zum Beispiel beeinflusst von der Höhe des Mindestlohns, von der Höhe der Lohnnebenkosten (z.B. Anteil an Kranken- und Pflegeversicherung) und von den sozialen Leistungen (z.B. Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz), die der Gesetzgeber vorschreibt.
Diese Regeln sind ein sehr wichtiger Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft, die davon ausgeht, dass die „Ware Arbeitkraft“ keine Ware ist wie alle anderen Waren, sondern eines staatlichen Schutzes bedarf, damit sie nicht beliebig ausbeutbar ist. Der Mensch, der seine Arbeitkraft auf dem Arbeitsmarkt anbietet, soll nicht wie ein handelbares Gut allein den Gesetzen des Marktes unterworfen sein.
Solche sozialen Errungenschaften sind für die Unternehmen, die im globalen Wettbewerb stehen, ein Klotz am Bein. Das ist so, wie wenn bei einem Wettrennen von Kurzstreckenläufern manche Sportler leichte Turnschuhe tragen und andere schwere Bergstiefel. Die Unternehmen, die soziale Rücksichten nehmen müssen, stehen im Wettbewerb mit Unternehmen, die solche Rücksichten nicht zu nehmen brauchen.
Auch Umweltauflagen, Unternehmenssteuern und Vermögensabgaben werden von der Wirtschaft als „Klotz am Bein“ empfunden und gehören zu der politisch gestaltbaren Beeinflussung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Die Politik hat, wenn sie den Wohlstand der Bevölkerung halten oder gerechter verteilen will, nur begrenzte Entscheidungsspielräume.
Wenn Industrieländer wie Deutschland oder Frankreich, die sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennen, ihren Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig halten wollen, dann geht das nur, indem die Unternehmen dieser Länder ihren wirtschaftlichen Nachteil – den sozialen oder ökologischen „Klotz am Bein“ – ausgleichen durch eine höhere Produktivität. Und die Produktivität lässt sich vor allem dadurch erhöhen, dass teure Arbeitskraft durch Maschinen und Automaten ersetzt wird.
Eine erhöhte Arbeitslosigkeit vor allem im Niedriglohnsektor ist die Folge, wenn die „frei gesetzten“ Arbeitskräfte nicht im Dienstleistungsbereich ihren Platz finden, wo bekanntlich die Löhne ziemlich niedrig sind. Ein zweiter Grund für die Massenarbeitslosigkeit liegt darin, dass sehr viele Unternehmen ganz oder teilweise ihre Produktion in Billiglohnländer verlagert haben und weiter verlagern.
Andere Industrieländer wie vor allem die USA, die so gut wie keine Sozialgesetze kennen, sind beim Standortwettbewerb im Vorteil gegenüber den Ländern, deren Unternehmen gesetzlich an soziale Rücksichten gebunden sind. Das ist natürlich ärgerlich für diese Unternehmen, die ihre soziale Gebundenheit als Fessel erleben. Sie propagieren daher den „freien Markt“ (ohne lästige Regeln) und schimpfen auf die angebliche „soziale Hängematte“ und die „ausufernde Bürokratie“. Und sie wollen unbedingt eine Freihandelszone Europa – USA (TTIP), weil so zusätzlicher Druck auf die sozialen und ökologischen Regeln im eigenen Land entsteht, die sie für übertrieben halten. Sie träumen von einem freien Markt ohne „soziale und ökologische Fesseln“ und beneiden die US-Amerikaner, die das schon haben.
Auf die Problematik der neoliberalen Globalisierung im Blick auf die Entwicklungs- und Schwellenländer werde ich in einem späteren Beitrag zu sprechen kommen.
Das Primat der Politik gegenüber dem Markt ist eine zentrale Säule der Demokratie. Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen einen zumindest stabilen Wohstand wollen, was die Bewahrung der Wettberbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts voraussetzt, dann kann sich unter Umständen der Widerspruch zwischen den Interessen der Wirtschaft und den Interessen der Mehrheitsbevölkerung auflösen. Er löst sich auf, wenn die Warnungen der Wirtschaftsverbände tatsächlich zutreffen. Er löst sich nicht auf, wenn die Warunungen nicht zutreffen, sondern von den Lobbyisten der Wirtschaft lediglich zur Angstmache eingesetzt werden, um ihre Partialinteressen voranzubringen.
Eines ist aus meiner Situationsbeschreibung deutscher Unternehmer, die sich im Wettbewerb auf dem Weltmarkt behaupten müssen, deutlich geworden: auch sie sind Getriebene. Sie sind gezwungen, so viel wie irgend möglich an Kosten einzusparen, um im „Rattenrennen“ nicht unterzugehen. Das meine ich mit der „Zwangsjacke“ (siehe Überschrift), in der die mächtigen Wirtschaftsbosse stecken – und mit ihnen die Politiker, die dafür sorgen müssen, dass der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ keinen Schaden nimmt mit der Folge von wachsender Massenarbeitslosigkeit und Bedrohung des sozialen Sicherungssystems, das ohne eine funktionierende Wirtschaft und hinreichende Steuereinnahmen des Staates zusammenbricht.
In meinem nächsten Beitrag will ich auf die Europäische Integration als Beispiel für eine „Globalisierung im Kleinen“ (Binnenmarkt) eingehen und anhand des Euro zeigen, wie sich soziale und wirtschaftliche Ziele im Wege stehen können, solange es einen ungebremsten (nicht geregelten) Standortwettbewerb gibt. zum Inhaltsverzeichnis
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