Die friedliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten könnte so schön sein! Denn gemeinsam handeln müssen sie, wenn sie nicht von den global agierenden Konzernen gegeneinander ausgespielt und beherrscht werden wollen. Das „Diktat der Finanzmärkte“, dem sich zurzeit die Politiker aller Länder beugen müssen, ist mit Demokratie nicht vereinbar und erzürnt zu Recht die Bürger.
Nationalistische Strömungen überall in Europa erhalten immer mehr Zulauf. Sie pochen auf die Souveränität ihres Landes. Allerdings verkennen sie dabei, dass es diese Souveränität nicht mehr gibt, seit sich im Rahmen der neoliberalen Globalisierung die Wirtschaft weitgehend dem Zugriff der nationalen Regierungen entziehen kann. Regierungen können Gesetze bekanntlich nur für ihr eigenes Land erlassen. Die global aufgestellten Konzerne müssen sich jedoch an den Gesetzen des global ungezähmten Marktes orientieren. Das Kapital ist wie ein scheues Reh. Es verlässt den Standort, der ihm nicht genug Nahrung bietet oder ungemütlich wird. Ein Land, dessen Wohlstand von den Wirtschaftseliten außerhalb seiner Grenzen abhängt, ist nicht souverän.
Wie im vorigen Beitrag (11) ausgeführt, unterliegen Unternehmen ebenso wie Politiker seit der globalen Öffnung der Märkte dem Zwang zur Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Und dieser Standortwettbewerb verlangt, nach den Gesetzen des Marktes zu tanzen. Diese Gesetze verdrängen die von demokratisch gewählten Abgeordneten beschlossenen Gesetze.
Die nationalistischen Gruppierungen erkennen diese Zusammenhänge nicht und wenden ihren Zorn stattdessen gegen die Europäische Union. Sie wollen sich nicht von den EU-Politikern mit ihren schwer durchschaubaren Institutionen und Expertengremien regieren lassen.
Auch Europafreunde müssen eingestehen: Zurzeit und wohl noch bis in die mittelfristige Zukunft gibt es kein hinreichend profiliertes und gefestigtes europäisches Wir-Gefühl. Ein solches Gefühl einer gemeinsamen Identität existiert bisher in den einzelnen 28 Mitgliedsländern nur auf nationaler Ebene.
Das Dilemma der angestrebten europäischen Integration liegt auf der Hand: Die gewählten Abgeordneten der einzelnen Staaten und die durch die Europawahl legitimierten Abgeordneten vertreten eine unterschiedliche Sichtweise. Die einen sehen sich als Vertreter ihres Landes, die anderen als Vertreter der EU. Die Interessen der 28 Nationalstaaten untereinander und die zwischen einem einzelnen Land und der Europäischen Union als Ganzes unterscheiden sich deutlich. Also stößt die politische Gestaltung des europäischen Staatenverbunds in Fragen des Sozialen und der Umwelt sehr schnell an Grenzen der Durchsetzbarkeit. Der Handlungsspielraum der EU-Institutionen beschränkt sich daher im Wesentlichen auf die wenigen Bereiche und Maßnahmen, bei denen die Interessen aller Mitgliedsländer deckungsgleich sind.
Ein Beispiel für die unterschiedlichen Interessen und Handlungsweisen der Mitgliedsländer ist die Steuergesetzgebung für Unternehmen. Durch Steuerdumping gelingt es einigen Staaten, Unternehmen in ihr Land zu locken zu Lasten von anderen europäischen Staaten (Wirtschaftsstandorten) mit höheren Unternehmenssteuern.
Eine Gemeinsamkeit ist die neoliberale Sicht auf die Wirtschaft – und diese Sichtweise unterstellt die Gültigkeit der Gesetze des freien (ungeregelten) Marktes. Deshalb beruht der gemeinsame Binnenmarkt auf dem Konsens aller Mitgliedsländer. Sobald es jedoch um sozial und ökologisch motivierte Regeln geht, mit denen die Freiheit des Marktes eingeschränkt werden soll, beginnen die Probleme bei der Konsensfindung. Denn die europäischen Staaten und ihre Wirtschaft stehen nicht nur in Konkurrenz zueinander, sondern müssen sich auch im wirtschaftlichen Wettbewerb mit China, den USA und allen anderen Wirtschaftsstandorten durchsetzen.
Der Euro als gemeinsame Währung krankt an der Unterschiedlichkeit der Wirtschaftskraft und Interessenlage der Mitgliedsländer. Sie sind in ihrer sozialen Verfasstheit und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu unterschiedlich, als dass eine gemeinsame soziale Politik machbar wäre. So besteht in der vergangenen und gegenwärtigen Krisensituation das Gemeinsame in der Politik der Mitgliedsländer lediglich in ihrer Bereitschaft, die Finanzmärkte zu beruhigen. Und diese Beruhigung besteht darin, ihnen zu gehorchen.
Der momentan geprobte Aufstand der neu gewählten Regierung Griechenlands wird nicht lange durchzuhalten sein und so enden, dass die griechischen Politiker nicht vollständig ihr Gesicht verlieren – mit einem scheinbaren Entgegenkommen, ohne dass die Finanzmärkte verärgert werden.
Die Gesetze des Marktes konkretisieren sich für die hoch verschuldeten Länder des Südens in den von der „Troika“ (IWF, EZB und EU) vorgegebenen Bedingungen. Diese werden von den in Not geratenen und auf Hilfe von außen angewiesenen Bevölkerungen als Diktat empfunden – mit dem Ergebnis, dass Ressentiments vor allem gegen die deutsche Regierung hoch kochen. Kanzlerin Merkel wird mit Hitler verglichen. Die angebliche Dominanz der Deutschen erweckt Hassgefühle. So wird das in früheren, wirtschaftlich ruhigen Zeiten gewachsene Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in Europa immer mehr zerstört.
Die EU mit ihrem Binnenmarkt kann als Modell einer „kleinen Globalisierung“ gesehen werden. Obwohl die Unterschiede zwischen den europäischen Mitgliedsländern wesentlich geringer sind als die Unterschiede zwischen den Industrieländern einerseits und den Schwellen- und Entwicklungsländern andererseits, zeigen sich bereits in der EU die Probleme, die im Weltmaßstab durch die Weltgemeinschaft völlig unbeherrschbar werden.
Die von Theoretikern des Neoliberalismus ersonnene „Konvergenztheorie“, der zu Folge sich bei freien Märkten (Freihandel, freier Kapitalverkehr) weltweit die Wirtschaftskraft und der Wohlstand einander annähern werden, kann als widerlegt gelten.
Zurück zu Europa. Zur gegenwärtigen Krise kann folgende allgemeine Regel gelten: Die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit des einzelnen Staates von den Finanzmärkten und von anderen Staaten setzt voraus, dass sich die Schulden des bisher abhängigen Staates deutlich verringern und der jeweiligen Produktivität anpassen. Ein Staat kann von einem anderen Staat oder von der EU Solidarität nur dann verlangen, wenn er bereit ist, alles in seinen Kräften stehende zu tun, um die begangenen Fehler zu korrigieren und auf die Beine zu kommen. Das ist im zwischenmenschlichen Verhalten nicht anders als im Verhalten der Staaten zueinander. Welche Anstrengungen zumutbar sind – darüber gehen natürlich die Meinungen auseinander.
Wie wird es mit Europa und dem Euro weiter gehen?
Ich weiß es nicht. Aber ich wünsche mir natürlich, dass die gegenwärtige Krise überwunden wird – mit oder ohne Euro. Entscheidend wichtig finde ich, dass das böse Blut, das durch die Abhängigkeit von den Finanzmärkten zwischen Teilen der Bevölkerung von Mitgliedsländern entstanden ist, wieder in gegenseitige Sympathie umschlägt.
Eine Voraussetzung dafür sehe ich (neben der Wiedergewinnung einer funktionsfähigen Wirtschaft) in der Stärkung der demokratischen Institutionen in den einzelnen Mitgliedsländern. Die Tendenz der letzten Jahre, die den auf nationaler Ebene gewählten Abgeordneten immer mehr Kompetenzen entzieht, muss gestoppt und umgedreht werden. Denn sonst verliert die Idee der Demokratie weiter an Überzeugungskraft und Anhängerschaft.
Ich plädiere für ein dezentral organisiertes Europa nach dem Prinzip der Subsidiarität: so viele Entscheidungen wie irgend möglich sollten einer möglichst tiefen Ebene zugeordnet werden: von unten nach oben – beginnend mit der kommunalen Ebene über die Ebene der Bundesländer bis hin zur nationale und schließlich der EU-Ebene.
Auf der Ebene der EU sollten nur Entscheidungen gefällt werden, die unbedingt notwendig sind, um den Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedsländern zu beenden. Auf der EU-Ebene muss also die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Länder aufeinander abgestimmt werden. Welche sonstigen Kompetenzen auf welcher der anderen Entscheidungsebenen (von der nationalen abwärts) angesiedelt werden, kann dann jedes Mitgliedsland selbst entscheiden.
Mit einer aufeinander abgestimmten, gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik könnte die EU als Wirtschaftsraum das Primat der Politik gegenüber den Finanz- und Gütermärkten zurückgewinnen. Die „Großregion Europa“ wäre dann stark genug, den Märkten die Stirn zu bieten und die Unternehmen zu zwingen, die politisch gesetzten Regeln zu befolgen. Einem Konzern, der sich diesen Regeln entziehen will, indem er in ein wirtschaftsfreundlicheres Land außerhalb der EU ausweicht, könnte wirkungsvoll in Aussicht gestellt werden, dass ihm in diesem Fall der große und attraktive Binnenmarkt der EU verschlossen bliebe.
Wir brauchen ein Europa nach dem Modell eines Staatenbundes (weitgehend autonome Nationalstaaten) und nicht als Bundesstaat. Denn mit einem Bundesstaat (zentral organisiert mit allen wichtigen Entscheidungskompetenzen an der Spitze) wäre verbunden, dass wir die Demokratie bis zur Unkenntlichkeit aufweichen. Der Abstand zwischen den Abgeordneten auf EU-Ebene und den Bürgern würde zu groß. Die Expertengremien würden regieren, indem sie Entscheidungen treffen, mit denen sie auf empfundene „Sachzwänge“ reagieren. Denn auf der Ebene der EU kann es angesichts der Verschiedenheit der nationalen Kulturen und Interessen keinen gemeinsamen politischen Willen geben – immer nur einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Und der liefe auf eine Abdankung der Politik hinaus, obwohl diese im Rahmen der „Großregion Europa“ eigentlich hinreichende Gestaltungsmacht hätte.
Für mich ist die Schweiz ein Vorbild für eine Demokratie. In ihr können die Bürger nicht entmündigt werden, weil sie mit Volksentscheiden ihren Abgeordneten die „Verbindung nach unten“ aufzwingen und das Abheben ihrer politischen Vertreter verhindern können. Denn Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls stehen immer unter einem Rechtfertigungszwang, bei dem nur gute Gründe zählen, die von der Bevölkerung auch verstanden und mitgetragen werde.
Aber, wie gesagt, der Nationalstaat hat als Souverän inzwischen ausgespielt, weil er sich gegen die globalen Finanz- und Gütermärkte (gegen die auf dieser Ebene agierenden Konzernen) nicht durchsetzen kann. Der einzige Weg, die Demokratie zu erhalten, ist die subsidiäre (dezentrale) Gestaltung der Großregion Europa.
Für Euroa als einziges bisher noch wirtschaftlich erfolgreiches Modell eines sozial und ökologisch gezügelten Marktes lohnt es sich zu kämpfen. Es muss verteidigt werden gegen das Modell eines ungezähmten Kapitalismus, wie wir ihn in den USA vorfinden. Dort ist die Wirtschaft zwar dynamisch, aber sozial extrem ungerecht. Wir müssen auf Dynamik (auf Masse, auf BIP-Wachstum) verzichten zugunsten einer gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Das lässt sich aber nur in einem (hinreichend großen) Wirtschaftsraum erreichen, der in der Lage ist, sich von der Vorherrschaft der Konzerne zu befreien, also die „Gesetze des freien Marktes“ den demokratisch beschlossenen Gesetzen unterzuordnen.
Übrigens: Damit mir niemand einen Plagiat-Vorwurf macht: manche Überlegungen zu den Themen Demokratie, Wirtschaft und „Großregion Europa“ habe ich aus folgendem Buch übernommen: „Wirtschaftsdiktatur oder Demokratie?“ Untertitel: „Wider den globalen Standortwettbewerb, für eine weltweite Regionalisierung“ (Hans-Joachim Schemel, Publik-Forum Edition, Oberursel 2010) zum Inhaltsverzeichnis
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