In der Politik wird viel geschrien. Mit dem Schreien meine ich die Stimmen von Politikern, die jeden Tag mehr oder weniger große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie von den Medien in den Vordergrund gerückt werden. Aber das ist nur die Oberfläche des politischen Geschehens. Es sind Momentaufnahmen, die bald vergessen sind, weil sie am nächsten Tag von anderen Stimmen ähnlicher Lautstärke übertönt werden.
Im Hintergrund gibt es intelligente Köpfe, die sich nicht mit Schlagworten und allzu eingängigen Argumenten zufriedengeben, sondern tiefer blicken. Sie bedenken das Ganze, also die größeren Zusammenhänge, in die das jeweilige Einzelphänomen eingebunden ist. Ich meine die politischen Berater und nenne sie die leisen Denker im Hintergrund, deren Argumente Gewicht haben.
Einer davon ist Herfried Münkler. Er kommt durchaus vor in der öffentlichen Debatte, aber sein Publikum ist nicht die große Masse der Medienkonsumenten, sondern Menschen, die wie er zu den nachdenklichen Zeitgenossen zu zählen sind. Sie sind empfänglich für die Zeichen der Zeit und für Denkanstöße – auch und gerade dann, wenn diese Anstöße nicht im Mainstream liegen.
In Zeiten, in denen die Demokratie in den höchsten Tönen gelobt und in allen Medien gegen tatsächliche oder eingebildete Feinde verteidigt wird, gibt es Menschen wie Münkler, die sich nicht blind fortreißen lassen von dieser populären Denkfigur, sondern auf kritische Distanz zu ihr gehen, um einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf sie werfen zu können. Er versteht sich als Verfechter der Demokratie, allerdings als einer, der nicht blind an ihr Fortbestehen glaubt, weil er auch ihre Schwächen und ihre Verletzlichkeit im Auge hat. Demokratie lässt sich nur dann effektiv verteidigen, wenn man ihre Schwachstellen kennt, die zu Bruchlinien werden können, wenn nicht gezielt gegen das mögliche Auseinander- und Zusammenbrechen dieser Staatsform vorgegangen wird. Das ist Münklers Anliegen.
Am 20. Juni 2017 hat Münkler in den Räumen der Münchner Siemens-Stiftung Gedanken vorgetragen, die im lauten Stimmengewirr der Tagespolitik kaum Beachtung fanden. Er erwähnte verschiedene Ausprägungen der Demokratie. Die attische Demokratie der alten Griechen, wie sie uns als Idealgestalt von Demokratie beigebracht wurde, unterscheidet sich von zwei in der Gegenwart anzutreffenden Ausprägungen: von der behäbigen Beratungsdemokratie, die die Bedingungen ihres Wirkens in relativ ruhigen Zeiten findet, und von der aufgeregten Stimmungsdemokratie, die in Krisenzeiten die Ängste der Bürger widerspiegelt, dabei jedoch die Fähigkeit verliert, die Gründe der Aufregung durch kluge und weitsichtige Politik in den Griff zu bekommen.
Münkler stellt fest, die Demokratie sei keine heilige Kuh, die unter Artenschutz steht. Sie müsse sich als eine Staatsform beweisen, die besser als andere Staatsformen dem Wohl der Allgemeinheit dient. Sie müsse zeigen, dass sie in der Fähigkeit, elementare gesellschaftspolitische Probleme zu lösen, der Autokratie überlegen ist. Die Demokratie könne nur dann die besseren Lösungen hervorbringen, wenn man moderne demokratische Politik als eine Art Pendelbewegung denke.
Unsere parlamentarische Demokratie kennt zurzeit nicht die Volksabstimmung auf Bundesebene. Gewählte Volksvertreter vollziehen das, was als „Wille des Volkes“ bezeichnet wird. Diese indirekte Form der Entscheidungsfindung ist nach den Erfahrungen der Nazidiktatur aus guten Gründen in Deutschland eingeführt worden. Wir haben gelernt, dass die unmittelbare Befolgung des „Volkswillens“ sehr leicht in die Irre führen kann, weil sich die Meinung der Mehrheit in Krisenzeiten allzu leicht demagogisch in die Richtung des Verderbens lenken lässt.
Münkler schlägt vor, dass Politiker dem Wunsch nach direkter Demokratie ein Stück entgegenkommen sollten, also „Politik verkleinern“, indem über direkte Abstimmungen systematisch Macht ans Volk abgegeben wird, allerdings nur in lokalen und regionalen Zusammenhängen.
Auf der anderen Seite müsse das Volk seine „notwendige politische Inkompetenz“ aktiv bekämpfen, also sich politisch informieren auch dann, wenn das Freizeit kostet und sogar Verdienstausfälle nach sich zieht. Nur so könne der Bürger verstehen (und ertragen), dass so manche wichtige Entscheidung von den gewählten Repräsentanten nur nach quälend langen Beratungen gefällt werden kann. Diese Bereitschaft, sich in komplexe Themen einzuarbeiten, sei angesichts der „Vergrößerung der Politik“ erforderlich, zum Beispiel angesichts der notwendigen Entscheidung, die Grenzen Europas in Afrika zu sichern.
Wie sieht die vorgeschlagene „Pendelbewegung“ aus, wenn man sie weiterdenkt? Die für unsere Demokratie geltenden Grundrechte wie Meinungsfreiheit, transparentes Regierungshandeln und die Gültigkeit von Mehrheitsentscheidungen sind nicht als starre Regeln aufzufassen, sondern müssen flexibel gehandhabt werden. Sie müssen sich anpassen an die Situation, in der sich die Demokratie befindet. In Zeiten der Bedrohung von Demokratie (und aller in ihr garantierten Grundrechte) kann sie sich nur effizient zur Wehr setzen, indem sie sich der Autokratie ein Stück annähert. Das geschieht, indem sie in Krisenzeiten solche Regeln gezielt aufweicht oder aussetzt, deren strikte Befolgung die Verteidigung demokratischer Institutionen behindern würde. Das gilt für den Datenschutz, gilt für geheime politische Absprachen, gilt für die Durchsetzung von Entscheidungen, die unpopulär, jedoch aus Expertensicht sinnvoll sind, gilt für die Beschränkung der Meinungsfreiheit durch unvollständige und einseitige Information der Öffentlichkeit.
Kann man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? Man kann es, wenn dabei die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Grundrechte „ein Stück“ beschneiden bedeutet nicht, sie aufzugeben, wenn das Beschneiden dem Zweck dient, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Wer an der Perfektion demokratischer Praxis festhält und damit seine Möglichkeiten begrenzt, die Demokratie zu verteidigen, läuft Gefahr, alle demokratischen Grundrechte an selbsternannte Retter und Führer auszuliefern, die überhaupt keine Skrupel kennen. Das haben die Deutschen am Ende der Weimarer Republik erleben müssen.
Die Politik hört nicht auf die Nachdenklichen, also müssen sie in die Parteien vordringen. http://Www.demokratievonunten.de