Alles Elend dieser Welt lässt sich mit drei Begriffen erklären: Zugehörigkeit, Angst und Hierarchie. Mit Elend meine ich Krieg, Hungersnot und bittere Armut, Umweltzerstörung, Diskriminierung, Diktatur, krasse Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Kluft zwischen Arm und Reich, Raub, Hass, Vertreibung, Terrorismus, Nationalismus, Rassismus. Die Ursachen allen Elends lassen sich bekämpfen, wenn mit den genannten drei Phänomenen, die elementar mit uns Menschen verbunden sind, vernünftig umgegangen wird. Unsere Vernunft – unsere Möglichkeit des planvollen, intelligenten und ethisch reflektierten Handelns – ist also der Schlüssel zur Verbesserung der Welt. Diese meine steile Behauptung möchte ich im Folgenden erläutern.
Zugehörigkeit, Hierarchie und Angst werden immer zum Leben jedes Menschen gehören. Denn hinter allen drei Begriffen verbergen sich elementare Bedürfnisse. Es fragt sich nur, wie mit diesen Bedürfnissen umgegangen wird.
Zugehörigkeit und Angst
Wir Menschen sind soziale Wesen. Jeder von uns gehört irgendwo dazu: zu einer Familie, Partnerschaft, Freundesgruppe, Interessengruppe, Unternehmen, Glaubensgemeinschaft, Nation etc. Wir entwickeln ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl, ein Wir-Gefühl. Darauf beruht das Gefühl der sozialen Sicherheit – die Gewissheit, dass uns die Gruppe „auffängt“, wenn es uns schlecht geht. Das reicht von der selbst auferlegten Verpflichtung, sich um Familienangehörige oder Freunde zu kümmern, wenn sie das brauchen, bis hin zu den sozialen Gesetzen und Institutionen des Staates. (siehe auch Beitrag 2 zu sozialen Angst)
Jede Gruppe steht unter einem Zustimmungs- und Konsensdruck, den ihre Mitglieder aufeinander ausüben, damit die Gruppe ihre spezifischen Ziele „solidarisch“ (also ohne das Störfeuer Einzelner) ansteuern kann. Je mehr wir in unsere Gruppe eingebunden und von ihr abhängig sind und je mehr wir uns mit unserer Gruppe identifizieren, desto größer ist unsere Angst, ausgeschlossen zu werden. Es ist die Angst, nicht mehr dazu zu gehören, aus der Bindung zu fallen, isoliert, allein und hilflos zu sein.
Wenn diese Angst ein bestimmtes Maß überschritten hat, führt sie zur Abhängigkeit, zur Preisgabe des eigenen Willens – auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen ebenso wir auf staatlicher Ebene.
In der Partnerschaft oder in der Familie nutzt der „starke“ Partner die Angst des „schwachen“ aus, wobei mit „schwach“ das Gefühl gemeint ist, vom anderen abhängig zu sein – materiell oder emotional. Ob die Abhängigkeit eine tatsächliche oder nur eine eingebildete ist, sei dahingestellt. Und mit „stark“ ist in diesem Zusammenhang die Skrupellosigkeit dessen gemeint, der seine Macht zulasten eines anderen Menschen ausspielt.
Diktaturen nutzen diese Angst vor Ausschluss aus der Gemeinschaft, indem sie auf Nationalismus setzen. Sie stabilisieren sich, indem sie sich in der Rolle des Hüters und Verteidigers „des Ganzen“ präsentieren. Dazu brauchen sie Feinde oder Feindbilder, damit sich das Volk geschlossen dagegen stellt. Je geschlossener eine Gesellschaft, desto mehr verlangt sie nach einer Führergestalt. Je mächtiger dieser Führer, desto skrupelloser und ungehemmter kann er seine Untergebenen dazu zwingen, die größten Verbrechen zu begehen. Andere Völker oder „innere Feinde“ werden herabgesetzt und diskriminiert – im Extrem bis hin zu Krieg, Vertreibung und Völkermord.
Es gibt auch andere elementare Ängste, die mit Zugehörigkeit zusammenhängen. Die Angst vor Armut und bitterer Not macht den Arbeitnehmer abhängig von dem Unternehmen, in dem er arbeitet – und zwar dann, wenn er keine andere Arbeit als Einkommensquelle findet, die er zum Überleben braucht. In dieser Situation wagt er nicht zu streiken. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes duldet er unfaire Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen bis hin zu himmelschreiender Ausbeutung.
Der Freiheitskämpfer oder Terrorist identifiziert sich besonders stark mit den Idealen und Zielen seiner territorial, ideologisch oder religiös abgegrenzten Gruppe. Bei ihm ist die Angst, nicht dazu zu gehören, besonders groß. Für seine Gruppe ist er bereit, sein Leben zu opfern. Er kalkuliert damit oder nimmt es zumindest in kauf, dass seine Terroraktion unschuldige Opfer kostet.
Hierarchie
Gegen meine Ausführungen zu den negativen Begleiterscheinungen unseres Willens zur Zugehörigkeit ließe sich einwenden: dagegen können wir etwas tun, indem wir uns als vernünftige Wesen innerhalb der Gruppen und gruppenübergreifend zusammensetzen und Regeln (Gesetze, Bestimmungen, Verhaltensregeln) ersinnen und durchsetzen, mit deren Befolgung die erwähnten Formen des Elends aus der Welt geschafft werden können. Warum das nicht so einfach (fast unmöglich) ist, hängt mit dem Phänomen der Hierarchie zusammen.
So wie die Zugehörigkeit ist auch die Hierarchie als solche nichts Schlechtes. Sie gehört zu unserem Leben in der Gemeinschaft, die arbeitsteilig organisiert ist. Der eine kann das eine, der andere etwas anderes besser. Die Kompetenzen und daraus abgeleitete Aufgaben und Arbeitsfelder sind unleugbar unterschiedlich und werden das auch bleiben. So entwickelt sich zwangsläufig eine Ebene der Entscheidung und eine der Ausführung – sozusagen ein „oben“ und ein „unten“. Es gibt Leute, die das Sagen haben und solche, die das tun, was ihnen gesagt wird. Warum? Weil es zur Aufgabe der Entscheidenden gehört, dass sie sich den Überblick verschaffen, den die anderen in einer Organisation (Unternehmen, Institution) nicht haben können, weil sie ihre Aufmerksamkeit und Energie auf das Ausführen richten. Anders lassen sich komplexe Aufgaben und Arbeitsprozesse nicht bewältigen. Bis hier her – bis zur funktional begründeten Hierarchie – ist noch alles in guter Ordnung, denke ich.
Hierarchie wird zum Problem, wenn sie sich nicht mehr funktional rechtfertigen lässt, sondern eine Eigendynamik entwickelt. Diese Eigendynamik, diese Loslösung vom vernünftigen Umgang – wirkt sich nicht nur kontraproduktiv aus, sondern verletzt auch Regeln des friedlichen und fairen Miteinanders. Der Irrsinn ungerechtfertigter Hierarchie – Befehl und Gehorsam, Machtausübung, Entmündigung dessen, über den bestimmt wird – ist tief im menschlichen Bedürfnis nach einer „Pickordnung“, eines Zusammenlebens nach dem Prinzip der Hühnerleiter verankert. Und hier liegt die Schwierigkeit, Hierarchie auf das zu begrenzen, was vernünftig ist.
„Pickordnung“ und „Hühnerleiter“ klingt harmlos. Es hat das Gerangel um Dominanz im alltäglichen Zusammenleben der Menschen im Blick. Aber da gibt es noch die höhere Entscheidungs- und Handlungsebene. Hier wird die Eigendynamik gefährlich, denn hier geht es um Macht und Einfluss in Politik, Wirtschaft und Kultur. Es geht um eine Ebene, von wo aus das Leben von Millionen Menschen entscheidend beeinflusst wird. Dort wird über Krieg und Frieden, über die Wirtschaftsordnung und den Umgang mit ihr, über die Begrenzung des Mehrheitswillens und den Schutz von Minderheiten, über das Zulassen oder Bekämpfen von Armut und Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, Willkür, Gewalt, Not, Chaos, Umweltzerstörung entschieden – kurz: über all das, was im Konkreten unter „Sicherheit“, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Wohlstand“ zu verstehen ist und auf welchem Wege es in welcher Verteilung erreicht werden soll.
Wenn eine kleine Schicht zur Macht kommt, sprechen wir von Diktatur. Dann ist es nicht oder kaum noch möglich, den Willen der Mehrheit oder die Überzeugungskraft des besseren Arguments zur Geltung zu bringen. Aber auch in einer Demokratie kennen wir die Macht der Eliten: der wenigen Reichen und Mächtigen, die über den größten Teil des gemeinsam erwirtschafteten Reichtums verfügen beziehungsweise einen nicht durch Wahlen legitimierten übergroßen Einfluss auf Politik und Wirtschaft ausüben – einen Einfluss, der sich immer mal wieder über den Mehrheitswillen hinwegsetzen kann.
Es ist kein Zufall, dass sich jede Gesellschaft in ein mehr oder weniger „oben“ und „unten“ ausdifferenziert oder spaltet. Wer oben ist, verteidigt mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine Position und die Privilegien, die er sich kraft seines relativ hohen Einflusses verschafft hat. Es kommt nun entscheidend darauf an, wie weit sich das Oben und Unten verfestigt, also wie weit die Durchlässigkeit nach Oben und Unten für jedermann gegeben ist. Unsere Demokratie und auch der Kapitalismus erheben den Anspruch, diese Durchlässigkeit zu gewährleisten. Das Versprechen: Das Leistungsprinzip – also die Belohnung dessen, der in Geld oder in Wählerstimmen gemessen am erfolgreichsten agiert – verhilft zu Reichtum und Einfluss, wenn man mal das durch Erbschaft leistungslos erworbene Vermögen außer Acht lässt. Die Drohung: wer seiner Stellung und Position nicht gewachsen ist, muss absteigen. Die Hoffnung: wer unverschuldet in Not gerät, den unterstützt der Sozialstaat.
Ungerechtigkeit, Willkür, Gewalt und unsere Angst davor haben also viel mit der Frage zu tun, wie wir mit Hierarchie umgehen und ob es uns gelingt, deren Eigendynamik – den Machtmissbrauch der Eliten – zu verhindern. So lange wir in Hierarchien befangen sind, in denen ungerechtfertigte, im Hintergrund still wirkende Machtpositionen und Privilegien gesellschaftlich akzeptiert und geduldet sind, so lange werden wir mit einer Wirtschaftsordnung leben müssen, die Sozialdarwinismus, soziale Unsicherheit und das Auseinanderdriften von Arm und Reich begünstigt. zum Inhaltsverzeichnis
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