Warum reden wir so oft aneinander vorbei? Warum funktioniert trotz unterschiedlicher Wortverständnisse die Alltagskommunikation? Was bleibt unerwähnt? Was hat die Praxis des Sprechens mit dem Urteilsvermögen zu tun?
Worte sind nicht eindeutig
Was wir von der Welt wissen und verstehen – von uns selbst und unseren Mitmenschen, von den Vorgängen in der Gesellschaft und in der Natur – ist von Individuum zu Individuum höchst unterschiedlich. Jeder von uns sieht und versteht nur einen winzigen Bruchteil – und welcher das ist, hängt von zahlreichen Umständen ab: was wir selbst erlebt und beobachtet haben, was uns Eltern und Lehrer sagten und vorlebten, was wir Büchern und anderen Medien entnommen haben, was uns berührt hat und was in unserem Gedächtnis kaum Spuren hinterlassen hat – kurz: wie wir die auf uns einstürmenden Informationen aufgenommen, ausgesiebt, gedeutet und eingeordnet haben.
Jeder von uns bastelt sich aus den Bruchstücken seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit sein eigenes Weltbild zusammen – und über unsere Sprache können wir uns untereinander darüber verständigen. Wir haben Worte gelernt und assoziieren sie mit bestimmten Teilen der beschreibbaren Wirklichkeit, für die diese Worte (Bezeichnungen) stehen. Wenn wir die Wirklichkeit individuell unterschiedlich wahrnehmen, dann haben auch die Worte, die für die einzelnen Teile dieser Wirklichkeit stehen, eine individuelle Einfärbung. Die Bedeutung eines bestimmten Wortes ist für uns so verschiedenen Menschen nicht einheitlich.
Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem
Wegen dieser unterschiedlichen Einfärbung des Wortverständnisses wundere ich mich, dass wir Menschen nicht ständig aneinander vorbeireden. Meist haben wir das Gefühl, den anderen Menschen verstanden zu haben. Oft wissen wir allerdings in der konkreten Gesprächssituation nicht, ob und wie sehr wir aneinander vorbeireden. Vielleicht klammern wir uns nur an die Illusion, verstanden zu haben und verstanden worden zu sein. Muss sich nicht bei jedem Satz, den wir aussprechen, im Kopf des Gegenübers ein Verständnis dieses Satzes bilden, das sich von dem unterscheidet, was wir mit diesem Satz sagen wollen? Mir geht es hier nicht um das mehr oder weniger ausgeprägte Geschick im Umgang mit Sprache, sondern um den individuell unterschiedlichen Bedeutungsgehalt von Worten.
Unsere Worte und Sätze sind Hilfsmittel, um uns gegenseitig mitteilen zu können, was wir denken. Als Kinder lernen wir die Worte unserer Sprache, lernen vom Zuhören, für was die Worte stehen. Aber, wie gesagt, jeder Mensch hat andere Eltern, andere Lehrer, andere Erlebnisse gehabt, aus denen er geschöpft hat, als er für sich herausfand, mit welchen Worten er was beschreiben kann.
Die Worte, die uns zur Verfügung stehen, können also nicht eindeutig sein, weil sich unser Verständnis von dem, was Worte bedeuten, von Person zu Person unterscheidet. Worte und Sätze sind also vieldeutig. Es geht mir um die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Ich fasse diesen Gedanken in ein Bild: Wenn ich mit jemandem rede, ist ein Satz wie ein Gefäß, das ich mit einem bestimmten Inhalt fülle und der anderen Person überreiche. Die Person nimmt das Gefäß, schaut hinein – und was sie sieht, ist nicht ganz das, was ich hineingetan habe. Was ich mit meiner blau getönten Brille als Inhalt des Gefäßes sehe, sieht die Person mit der grün getönten Brille eben teilweise anders. Daraus folgere ich: nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen ist der Normalfall.
Beispiele für unterschiedliches Wortverständnis
Was ich mit dem unterschiedlichen Wortverständnis meine, will ich mit Beispielen erläutern. Nehmen wir das Wort „Wohnung“. Jeder von uns verknüpft mit diesem Wort andere Assoziationen – je nach Erfahrungshintergrund. Der eine assoziiert mit Wohnung Ordnung und Sauberkeit, der andere denkt dabei an eine unordentliche Studentenbude. Für den einen bedeutet Wohnung ein geschützter Raum, in den er sich aus der umtriebigen Welt zurückziehen kann, für den anderen ist die Wohnung der Mittelpunkt des Familienlebens und ein Raum der Begegnung mit Gästen. Der eine denkt bei diesem Wort an einen repräsentativen Wohnraum als Statussymbol, der andere an einen unkontrollierten Ort, wo er machen kann was er will und niemandem Rechenschaft abzulegen braucht.
Dieses Beispiel zeigt, dass sogar ein Wort der Alltagssprache (hier „Wohnung“) mit verschiedenen Assoziationen (Inhalten, Bedeutungen) verknüpft ist und entsprechend unterschiedliche Einfärbungen hat, wenn darüber gesprochen wird. Diese Unterschiede sind zunächst unsichtbar, bleiben unerwähnt, weil davon abstrahiert wird. Das Wort allein sagt also wenig. Es muss, um verstanden zu werden, in einen Zusammenhang gestellt werden, aus dem hervorgeht, wie das Wort in der konkreten Gesprächssituation gemeint ist.
Es gibt jedoch auch Worte, die wesentlich schwieriger zu verstehen sind als in diesem einfachen Beispiel. Ich meine komplexe Worte, bei deren Nennung ganze Weltbilder mitschwingen. Ich denke zum Beispiel an Worte wie Liebe, Wahrheit, Glaube, Glück, Ordnung, Ehre, Sicherheit, Freiheit, Aufklärung, Demokratie, Macht, Selbstbestimmung, Wachstum, Fortschritt, Wohlstand. Wenn diese Worte fallen, versteht zunächst einmal jeder darunter etwas anderes – und es hilft beim Gedankenaustausch wenig, wenn sich alle Gesprächsteilnehmer an die im Duden stehenden Definitionen und Erläuterungen halten. Bei diesen komplexen Worten ist es äußerst schwer für den Sprechenden, deutlich zu machen, von welchem Bedeutungsgehalt er ausgeht, wenn er das Wort in einem Gespräch oder einer Debatte verwendet. Wenn ein komplexes Wort ausgesprochen wird, dann müsste vom Sprecher eigentlich erst einmal erläutert werden, wie er dieses Wort versteht. Aber das tun wir ja nicht. Da wir meist darauf verzichten, auf die Unterschiedlichkeit im Verständnis solcher komplexer Worte näher einzugehen, sind Missverständnisse vorprogrammiert.
Das ist natürlich anders in weltanschaulich homogenen Gruppen, wo für all diese komplexen Worte (oder für einige davon) ganz bestimmte Bedeutungen feststehen. Hier gibt es deutlich weniger Anlässe für Missverständnisse. Diese kommen erst auf, wenn jemand mit Menschen kommuniziert, die sich außerhalb der eigenen ideologisch relativ abgeschlossenen Gemeinschaft befinden. Übrigens: wenn von „Wertewandel“ die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass sich bei einem großen Anteil der Bevölkerung die Inhalte komplexer Worte verändern.
Die Beispiele zeigen die vielen Risiken, aneinander vorbei zu reden. In der Alltagskommunikation ist es für das gegenseitige Verstehen hilfreich, wenn vom Gesprächspartner verbale Äußerungen gleichzeitig mit nonverbalen „Nebenbotschaften“ wahrgenommen werden: Gesten und Mienen des Sprechenden und die Stimmung beim Sprechen (leise oder laut, aufgeregt, ruhig, fordernd, spöttisch, abgeklärt gelassen…).
Bei geschriebenen Worten und Sätzen sind nonverbale Botschaften bekanntlich nicht möglich (abgesehen von ergänzenden Bebilderungen). Daher behilft man sich hier mit Umschreibungen und Erläuterungen: Worte und Sätze müssen in relativ ausführliche Texte eingebunden werden, um das Gemeinte deutlich zu machen. Erst einem Text, der einen Gedanken voll entfaltet, können wir entnehmen, was die Person tatsächlich gemeint hat, als sie ihre Worte und Sätze aneinanderreihte in der Absicht, ihren komplexen Gedanken für andere Menschen nachvollziehbar zu machen.
Rein verbale Äußerungen können erst dann richtig verstanden werden, wenn sie in den größeren Zusammenhang eingeordnet werden können, in den der Sprechende oder Schreibende sie verortet hat. Worte und Sätze führen ihr Eigenleben in dem einen größeren (verbal artikulierten) Sinnzusammenhang – vergleichbar einem Gedankengebäude, in dem die einzelnen Teile ihren Sinn aus ihrer Funktion für das Ganze gewinnen. Die Bedeutung eines Brettes wird erst deutlich, wenn man weiß, an welcher Stelle genau es eingebaut ist: in welchem „funktionalen Zusammenhang“ es steht.
Aus dem Zusammenhang gerissene Worte und Sätze
Eine miese Methode, einem Menschen zu schaden, besteht darin, von ihm formulierte Worte beim Zitieren aus dem Zusammenhang zu reißen und gegen ihren Urheber zu verwenden. Dem Schreibenden oder Redner werden Gedanken unterstellt, die er so nicht gemeint hat. Sie sind absichtlich falsch (also böswillig) in seine Aussagen hineininterpretiert worden. Das ist gefährlich. Denn wer macht sich schon die Mühe, den gesamten Text sorgfältig zu lesen, um zu erkennen, ob es sich um eine falsche Unterstellung handelt? In der öffentlichen Wahrnehmung bleibt der erhobene Vorwurf am Opfer der Verleumdung kleben wie der Kaugummi am Schuh. Nur selten kann sich der falsch Beschuldigte gegen die falschen Zitate wirkungsvoll wehren.
Im politischen Meinungskampf ist es für Kontrahenten sehr verführerisch, Worten und Sätzen des Gegners falsche Bedeutungen zu unterstellen – in der Absicht, dessen Argumentation zu schwächen oder ihn sogar als Person herabzusetzen im Bestreben, den eigenen Standpunkt überlegen erscheinen lassen. Das vergiftet das politische Klima – im Unterschied zu politischen Fehlentscheidungen, die eingeräumt und zurückgenommen werden. Demokratien sind darauf angewiesen, dass die gewählten Repräsentanten in der Öffentlichkeit ihre Glaubwürdigkeit behalten. Wer sie ihnen ohne belegbaren Grund – oft nur auf Verdacht – abspricht, der gehört zu den Totengräbern der Demokratie.
Da gesprochene Sätze in ihrer Unmittelbarkeit mehr Eindruck machen als geschriebene Sätze (die zudem nur von wenigen gelesen werden), erleben wir immer wieder, dass in der politischen und sonstigen intellektuellen Auseinandersetzung nicht das bessere Argument wahrgenommen wird. Stattdessen erzielt die bessere Rhetorik mit „geschickten“ Unterstellungen die meiste Aufmerksamkeit und Wirkung.
Werbesprüche und Parolen
In der Werbung und bei politischen Parolen stehen Worte und Sätze ziemlich allein, werden also ganz bewusst aus den Sinnzusammenhängen herausgelöst, die einzelne Worte und Sätze verstehbar machen würden. Ohne Zusammenhang sind solche Worte kaum aussagekräftig, weil sie einen Interpretationsspielraum lassen, der beliebig ausfüllbar ist. Parolen und Werbungsprüche werden gerade deshalb verwendet.
Warum gerade deshalb? Weil ihre Schöpfer mit ihnen keine gedanklichen Inhalte transportieren wollen, sie wollen auch nicht argumentieren, sondern sie wollen bestimmte Assoziationen wecken. Schlagworte und Parolen senden ein Signal aus für Leute, die diese Worte „richtig“ aufnehmen – also wie beabsichtigt: indem die Konsumenten den gebotenen Interpretationsspielraum mit den von den Urhebern der Sprüche beabsichtigten Inhalten füllen. Parolen und Werbesprüche brauchen keinen Zusammenhang, weil sie als solche nicht „verstanden“ werden sollen. Das Ansprechen des Verstandes wird bewusst vermieden – man zielt auf das „Bauchgefühl“, auf Sehnsüchte, auch auf uneingestandene Bedürfnisse. Am Verstand vorbei sollen die Zielpersonen erreicht werden: mit bestimmten Worten, Bildern und Farben, die entweder positive Gefühle und Assoziationen hervorrufen – Glück, Gesundheit, heile Welt, Wohlergehen – oder negative Vorstellungen aktivieren – Abschreckendes, Sündenböcke, Feindbilder. Beide Strategien vereinfachen bewusst. Parolen und Werbesprüchesie sollen Vorurteile und Gefühle bedienen, deren rationale Durchleuchtung unerwünscht ist.
Gedanken und Gefühle
Zurück zur „normalen“ Kommunikation zwischen Menschen, die sich dabei in die Augen schauen. In der Kommunikation trifft das Weltbild des einen Sprechenden auf das Weltbild des anderen. Der Austausch der Gedanken kann nur über Dinge und Geschehnisse erfolgen, die sich in Worte und Sätze kleiden lassen. Es bleiben also alle Aspekte der Wirklichkeit – Gefühle, Ahnungen, widersprüchliche Empfindungen – ausgeklammert, für die es keine Worte gibt. Gedanken sind Produkte des Verstandes. Und Worte sind geäußerte Gedanken. Es ist kaum möglich, Gefühle so zu kommunizieren, dass sie verstanden werden. Gedanken sind wenig geeignete „Gefäße“ zur Beschreibung von Gefühlen, für die es keine eindeutigen (nur mehrdeutige) Worte gibt.
Wer es versucht, seine Gefühle einem anderen Menschen mitzuteilen, setzt sich leicht dem (meist berechtigten) Vorwurf aus, er zerrede das, worum es gehe. Für hundert reale Gefühle gibt es geschätzt nur fünf Worte. Daher lassen sich Gefühle nicht exakt benennen – und wenn, dann nur um den Preis unsäglicher Pauschalisierung. Sie lassen sich verbal allenfalls andeuten und umschreiben. Benennen lassen sich nur die Anlässe und Ursachen von Gefühlsäußerungen.
An dieser Stelle möchte ich nicht näher auf das Hauptproblem in der alltäglichen Kommunikation eingehen: auf die mangelnde Wahnehmung der Gefühle, die sich hinter verbalen und nonverbalen Äußerungen verbergen – was dazu führt, dass sich Partner, Freunde, Nachbarn und vertreter verschiedener Generationen missverstehen. Gefühle müssen nicht in Worte gefasst werden, um wahrgenommen zu werden.
Schriftsteller und Dichter sind Meister in der Kunst, für die gefühlten Dimensionen der Wirklichkeit geeignete Worte zu finden. Zumindest haben Menschen bei der Lektüre literarischer Werke die Ahnung, dass mit diesen Worten etwas angesprochen wird, was sie zwar kennen, wofür sie jedoch keine Sprache gefunden haben.
Gedanken sind, bevor ich sie anderen mitteile, Worte und Sätze, die ich an mich selber richte. Mit Gedanken – mit meinem Verstand – kann ich also nur solche Aspekte der Wirklichkeit erfassen (mir bewusst machen), die sich in Worten ausdrücken lassen. Je mehr ich von der Wirklichkeit bewusst wahrnehmen kann, desto mehr Worte benötige ich, um die mir zugängliche Wirklichkeit zu beschreiben. Deshalb hat jede wissenschaftliche Disziplin ihren eigenen Wortschatz, der die nicht-fachliche Alltagssprache ergänzt. Und in die Alltagssprache mischen sich Fremdworte. Je komplexer unser Wissen, desto komplexer die Sprache, in der dieses Wissen gespeichert und vermittelt werden kann.
Die abgeschliffene Alltagssprache
Zurück zur alltäglichen Unterhaltung, die wir Normalmenschen miteinander führen. In diesem Fall gibt es kaum Missverstehen. Die verwendeten Worte werden meist vom Gesprächspartner so verstanden, wie sie gemeint sind. Warum? Der für solche Gespräche notwendige Wortschatz ist relativ begrenzt – wie ja auch die sich ständig wiederholenden Erfahrungen des Alltags begrenzt sind. Die in der Alltagssprache verwendeten Worte haben ihren individuellen Bedeutungsgehalt verloren. Eine bestimmte Bedeutung für jedes Wort und für die (einfachen) Wortkombinationen hat sich durchgesetzt. Das ist vergleichbar mit der schon erwähnten weltanschaulich homogenen Gruppe mit einheitlichem Wortverständnis. Worte, die früher vielleicht noch vieldeutig (und daher missverständlich) waren, wurden abgeschliffen wie Kieselsteine. Die Gedanken sind „rund“ geworden, haben keine Ecken mehr. Wir verstehen im alltäglichen Umgang miteinander unsere Mitmenschen, weil unsere Alltagssprache einfach strukturiert ist. Die häufig verwendeten Worte, Sätze und Satzkombinationen sind auf pragmatische Ansprüche zugeschnitten. Da gibt es relativ wenig Raum für Missverständnisse, die aus unterschiedlich gemeinten Wortinhalten resultieren.
Meine These: in der Alltagskommunikation werden nur „grobe“, plakative, einfache Informationen und Gedanken ausgetauscht, bei denen mögliche Unterschiedlichkeiten des Wortverständnisses nicht erkennbar sind, weil die Worte und Sätze „zurechtgehobelt“ sind. Der alltägliche „grobkörnige“ Gedankenaustausch bedient sich also nur eindeutiger Worte. Unterschiede im Wortverständnis konnten sich bei häufigem Gebrauch der entsprechenden Worte nicht halten, weil sie zur Überwindung von Missverständnissen zu viel Aufwand erforderten.
Ich sehe folgende Gefahr: Wenn uns in der alltäglichen Kommunikation nicht mehr bewusst ist, dass unsere gebräuchliche Sprache stark vereinfacht ist, dann geraten die individuellen Differenzen in der Wahrnehmung von Wirklichkeit (die Feinheiten) aus dem Blickfeld. Dann schwindet die Sensibilität für das Auseinanderklaffen von Wort und Bedeutung, von Gesprochenem und Gemeintem. Und damit schwindet zugleich unsere Wahrnehmung des Gesprächspartners als einem Menschen mit eigenem Weltbild. Wir neigen dann zu Monologen und zur Besserwisserei. Wir verabsolutieren unser eigenes Weltbild, stellen es nicht mehr zur Diskussion. Wir bilden uns in einer Gesprächsrunde ein, dass wir alle ähnlich denken, weil wir uns nur noch mit Worten verständigen, die keine möglichen Differenzen mehr vermuten lassen.
Und wenn wir die Alltagssprache übersteigen und anspruchsvolle Themen besprechen? Dann sehe ich die Gefahr: Wenn komplexe Worte verwendet werden, scheuen wir die Diskussion, weil wir die Anstrengung vermeiden wollen, den Unterschieden auf den Grund zu gehen. Denn das Ausräumen der vorprogrammierten Missverständnisse ist mühsam.
Dann bleibt als Inhalt eines möglichen Gedankenaustauschs nur noch das übrig, was sich in der Alltagssprache ohne Mühe ausdrücken lässt. In diesem Fall nimmt der Sprechende das, was er sagt, nicht mehr als einen Gedanken wahr, der bewusst holzschnittartig vereinfacht formuliert ist, sondern er passt sich in seinem Denken und Fühlen der Sprache an. Er denkt und empfindet nur noch das, was er in einfachen Worten ausdrücken kann. Dabei geht viel verloren – Momente der Wirklichkeit in ihrer individuellen Ausprägung. Der Inhalt passt sich an das Gefäß an. Alles, was sich nicht verbalisieren lässt, wird als nicht vorhanden oder nicht erwähnenswert betrachtet. Übrig bleibt nur das vom Verstand sofort Begreifbare, das in sehr einfacher Sprache formuliert werden kann.
Die Vereinfachung untergräbt eigenständiges Urteilen
Liegt in dieser Anpassung des Denkens an das leicht Sagbare vielleicht der tiefere Grund für angepasstes Denken und für den Verzicht auf eigenständiges Urteilen? Wenn das so ist, dann folgt der Anpassung an die Alltagssprache die Anpassung an die vorherrschende Meinung. Die Gleichförmigkeit des Denkens ist dort am stärksten ausgeprägt, wo man „unter sich“ bleibt, also dem Kontakt und der Debatte mit Andersdenkenden aus dem Wege geht. Man müsste ja gewohnte Worte und Sätze neu überdenken – und müsste respektieren, dass sie sehr oft von Person zu Person mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden sind.
Bei der vereinfachten Beschreibung der Wirklichkeit fallen alle Differenzierungen unter den Tisch, die das Besondere eines individuellen Weltbildes ausmachen: gefühlte und geahnte Momente der Wirklichkeit, die sich nur ansprechen lassen, wenn ein relativ hoher Aufwand für das Denken und Formulieren nicht gescheut wird. Wer keine anspruchsvollen Texte mehr liest, muss damit rechnen, dass ihm seine individuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit und sein eigenständiges Urteilsvermögen abhanden kommen.
Vereinfachtes Denken und Kommunizieren heißt: nicht wahrnehmen und nicht berücksichtigen, dass Worte und Sätze erstens hoch missverständlich sind (wegen der unterschiedlichen Bedeutungsgehalte), und zweitens nur Gedanken ausdrücken können, die nur die Teile der Wirklichkeit erfassen, die über den Verstand begreifbar sind und daher alle darüber hinausgehenden Empfindungen vernachlässigen.
Vor allem sind es die Außenseiter, die Schriftsteller, die Sonderlinge, die sich der doppelten Anpassung widersetzen und der Sprache ein gesundes Misstrauen entgegenbringen. Sie kämpfen mit der Sprache – und stoßen auch dann, wenn sie überdurchschnittlich geschickt mit ihr umgehen können, immer wieder an deren Grenzen. Diese Leute bleiben bei ihrer individuellen Wahrnehmung und leugnen sie auch dann nicht, wenn sie sich nicht in Worte fassen lässt. Der manchmal unüberbrückbare Abstand zum Sagbaren wird akzeptiert.
Wer sich dessen bewusst ist, dass sich Teile seines Weltbildes nicht oder nur mit Abstrichen sprachlich fassen lassen, der misstraut den Worten, weil er ihre Tücken kennt. Er wird zwar mit seiner Sprache aufmerksam umgehen, um sich einigermaßen verständlich zu machen und Missverständnisse so weit möglich zu vermeiden, wird jedoch nicht dem Irrtum verfallen, das Gesagte und das Gemeinte gleichzusetzen. Er wird also im Gespräch jeweils nach dem Gemeinten suchen. Auch wenn diese Suche fehleranfällig ist, so kann er auf diese Weise doch den in der Sprache vorprogrammierten Missverständnissen besser begegnen als jemand, der sich allein auf die Worte verlässt. zum Inhaltsverzeichnis
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