Wenn wir unsicher sind, empfinden wir das meist als unangenehm und als Mangel, der uns behindert. Wir wollen lieber mit sicherem Schritt durchs Leben gehen. Wir wollen uns unserer selbst, unserer Ziele und der uns dafür zur Verfügung stehenden Mittel sicher sein. Wir sollten dabei aber die Kehrseite der „Medaille Sicherheit“ nicht aus dem Auge verlieren. Eine gute Portion Unsicherheit ist eine positive Eigenschaft. Sie kann uns davor bewahren, uns selbst zu überschätzen.
Je mehr wir von uns selbst überzeugt sind, desto eher tappen wir in die Falle von Fehleinschätzungen und Fehlurteilen – ohne zu merken, dass wir falsch liegen. Unser Wissen ist immer begrenzt. Ich kenne Menschen, die sich auf einem bestimmten Gebiet sehr gut auskennen – und daraus den Schluss ziehen, dass sie auch auf anderen Gebieten den großen Durchblick haben.
Zum Beispiel bei Leuten, die sich stark für Gesundheitsfragen interessieren und sich in dieses Thema eingelesen haben, kann ihr fachliches Selbstbewusstsein dazu führen, dass sie ihrem Arzt allzu schnell widersprechen. Dann kommt es zu einem „Expertenstreit“, wobei sich der Laie (Autodidakt) allzu leicht überschätzt. Besserwissern kann der Mangel an Unsicherheit schaden. Aber auch „echte“ Experten sollten sich eine Portion Unsicherheit bewahren.
Wissenschaftliche Untersuchungen der Cornell University haben gezeigt: im Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit bemerken Experten oft nicht, wie sie sich grandios überschätzen und auf ihrem eigenen Wissensgebiet ganz danebenliegen. Sie behaupten erstaunlichen Unfug, wenn sie sich in einem Thema für sattelfest halten. Sie beurteilen die eigenen Schwächen und Stärken falsch. Darüber berichtet das Fachblatt Psychological Science (online).
Ein Wissenschaftlerteam hat untersucht, wie die Testpersonen ihre Kenntnisse einschätzen und wie wenig diese oft mit ihrem tatsächlichen Wissen zu tun haben. Der Psychologe Stav Atir stellt fest: „Das eigene Wissen einzuschätzen, ist keineswegs so einfach, wie es uns erscheint. Das gilt vor allem für Menschen, die sich selbst einen hohen Kenntnisstand zuschreiben.“ Die Testpersonen wurden in der Versuchsreihe gebeten, ihre Finanzkenntnisse einzuschätzen, indem sie Begriffe aus der Welt des Geldes erklären sollten, zum Beispiel Inflation und Eigenkapital. Es waren allerdings auch erfundene Stichworte darunter wie „annualisierter Kredit“ und andere Fantasiebegriffe. Ergebnis: Je sicherer sich die Personen ihrer ökonomischen Kompetenz waren, desto öfter erklärten sie mit vollem Ernst die erfundenen Begriffe. Dazu Atir: „ Je mehr sich die Leute auf ihr Wissen um Finanzen einbildeten, desto eher überschätzen sie ihre Kenntnisse und waren mit ausführlichen Erklärungen für die fiktionalen Begriffe zur Hand. Das galt auch für andere Bereiche wie Literatur, Philosophie, Geographie und Biologie.“
Die Wissenschaftler wollten mit diesem und anderen Versuchen mit gleichem Ergebnis ihre Zeitgenossen nicht bloßstellen, sondern warnen: Der Hang zur chronischen Selbstüberschätzung hindert viele Menschen daran, sich intensiver mit manchen Themen zu beschäftigen. Die irrige Wahrnehmung kann zu Fehlentscheidungen mit bösen Folgen führen zum Beispiel in den Bereichen Geldanlage oder Gesundheit.
Wir sind manchmal weniger durch unsere Unwissenheit als durch unsere Illusion von Wissen bedroht. Und vor dieser Illusion schützt uns nur die Unsicherheit, die wir uns selbst eingestehen. Das ist nicht leicht, denn das Erkennen von Unsicherheit setzt selbstkritisches Urteilsvermögen voraus. Leichter ist es, sich mit dem erworbenen Wissen zu begnügen und zu meinen, das reiche aus, um sich ein Urteil bilden zu können.
Ein anderes Beispiel für den Wert von Unsicherheit – diesmal nicht im Bereich des Wissens, sondern der Gefühle – finde ich im Bereich der sozialen Kontakte. Mir ist ein interessanter Zusammenhang aufgefallen: zwischen persönlicher Unsicherheit/ Angst auf der einen Seite und der Fähigkeit, den Gegenüber aufmerksam wahrzunehmen und auf ihn einzugehen andererseits. Was meine ich genau damit?
Ich unterscheide zwischen relativ angstfreien und relativ sensiblen Menschen.
Ein von sich selbst überzeugter Mensch fürchtet sich relativ wenig vor den Reaktionen seiner Mitmenschen auf seine Worte. Daher kann er ungewollt leicht andere Menschen verletzen und verärgern. Oft bemerkt er die Reaktionen seines Gegenübers überhaupt nicht. Er wollte ja auch nicht verletzen, sondern hat nur das ausgesprochen, was er beobachtet und sich gedacht hat. Und falls er doch merkt, dass er seinen Gesprächspartner verärgert hat, dann wundert er sich und vermutet, dass dieser eben nur nicht mit einer klar ausgesprochenen Wahrheit umgehen kann. Soll er nicht ehrlich sagen, was er denkt? Soll er lügen und heucheln? Der angstfreie Mensch eckt also leicht bei seinen Mitmenschen an. Er gilt als sozial wenig kompetent. Mehr Unsicherheit würde ihm gut tun.
Ein eher ängstlicher Mensch fürchtet die Reaktionen seiner Mitmenschen. Er nimmt sie sensibel wahr und es schmerzt ihn, wenn auf seine Worte heftig reagiert wird. Daher wählt er seine Worte vorsichtiger. Er wird sich mit klaren kritischen Äußerungen zurückhalten – und falls er doch eine für den Gesprächspartner unerfreuliche Beobachtung anspricht, dann wird er sich höflich ausdrücken, eher unklar, eher umschreibend, damit sich sein Gegenüber nicht verletzt fühlt. Nur wer selbst erlebt hat, welche Schmerzen unbedacht gewählte Worte bereiten können, wird mit der eigenen Wortwahl vorsichtig umgehen – nicht nur, weil der die harte Reaktion des Gegenüber vermeiden will, sondern auch, weil er sich in den anderen Menschen besser einfühlen kann. Seine Angst/ Unsicherheit hilft ihm, sich sozial kompetent zu verhalten.
Selbstverständlich wird soziale Kompetenz auch noch durch andere Eigenschaften und Verhaltensweisen bestimmt, auf die ich hier nicht eingegangen bin.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Unsicherheit macht uns wachsamer, weil sie uns davor schützt, durch ein falsches Gefühl von Sicherheit träge und blind für die Wirklichkeit zu werden. Unsicherheit spornt an, Menschen und Dinge genauer anzuschauen, uns nicht von falscher Selbsteinschätzung blenden zu lassen – eine Voraussetzung für ein kluges und sozialverträgliches Reden und Verhalten. zum Inhaltsverzeichnis
Deine Meinung