Wir fühlen uns frei, uns so oder anders zu entscheiden, wenn wir nicht durch die Verhältnisse oder durch eine Person zu irgendetwas gezwungen werden. Aber mir kommen Zweifel, wenn ich näher über diese „Freiheit“ nachdenke. Ich meine also nicht das, was unter politischer Freiheit verstanden wird, sondern die individuelle Freiheit. Wie frei ist mein Wille? Ich stelle die These auf: er ist nicht frei. Die Vorstellung der Freiheit ist eine Illusion, allerdings eine notwendige und hilfreiche.
Ich bin ein Produkt meiner Gene und der Verhältnisse, denen ich ausgesetzt bin. Das ist eine triviale Aussage, allerdings stecken in ihr tief greifende Konsequenzen hinsichtlich meiner Freiheit. Wie das? Meine Gene kann ich relativ wenig beeinflussen. Aber ich kann – auf den ersten Blick – die Verhältnisse beeinflussen. Hier stellt sich jedoch die Frage: woher kommt die Motivation, die Kraft, die Ausdauer und sonstige Eigenschaften in mir, die mich dazu befähigen, auf die mich prägenden Verhältnisse erfolgreich einzuwirken? Und umgekehrt: wie kommt es, dass ich nicht hinreichend motiviert bin oder nicht die Fähigkeit und Kraft aufbringe, erfolgreich mein Leben so zu gestalten, wie ich es gern hätte?
Wenn ich so frage, dann muss ich – auf den zweiten Blick – leider feststellen: diese Eigenschaften liegen außerhalb meiner Einflussmöglichkeiten. Ob ich also ein zupackend-aktiver oder eher ein zaghaft-passiver Typ bin, ob ich clever oder ungeschickt versuche, die Verhältnisse meinen Bedürfnissen anzupassen, ob ich bereit und in der Lage bin, aus Erfahrungen zu lernen, ob ich mir die richtigen oder falschen Ziele setze: alles hängt davon ab, wie ich denke und fühle, welche Intuitionen ich habe und so weiter.
Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin? Was hat mein Denken und Fühlen beeinflusst, was meine Intuition und meine Phantasie beflügelt oder gehemmt, was hat mir Energie gegeben oder diese Energie blockiert? Vielleicht habe ich einen guten Kontakt zu den richtigen Menschen oder einen unguten Kontakt zu (für mich) falschen Menschen gehabt, die mich geprägt haben. Vielleicht bin ich in materiell gesicherten Verhältnissen oder in bitterer Armut aufgewachsen. Wenn ich unter schlechten Voraussetzungen mein Leben begonnen habe, konnte ich zunächst nichts daran ändern. Dann aber doch? Wir hören immer wieder, dass auch Menschen, die unter schlimmsten Bedingungen aufgewachsen sind, keineswegs zu Opfern dieser Verhältnisse geworden sind, sondern sich trotz dieser schlechten Startbedingungen sehr gut entwickelt haben und ein „gelungenes Leben“ (was immer das heißen mag) führen konnten. Schön und gut – aber diese Menschen hatten angeborene oder erworbene Fähigkeiten, die ihnen diese Entwicklung ermöglicht haben. Sie sind Produkt (Ergebnis) dieser Einflüsse. Sie hatten einfach Glück (und die anderen Pech).
Wenn ich mich „frei“ entschieden habe, dann sind mir nie alle Faktoren bewusst, die in diese Entscheidung eingeflossen sind. Die Illusion der freien Entscheidung beruht auf der Vorstellung, es sei mein eigener Wille gewesen, der eine Auswahl unter den mir wichtigen Entscheidungsfaktoren getroffen hat. Ob diese Faktoren mir bewusst waren oder unbewusst gewirkt haben: es waren Kräfte, auf die ich im Moment meiner Entscheidung einfach nur reagiert habe – wie eine sehr komplex konstruierte, feinnervige, flüssige Maschine mit Millionen Schräubchen. Alle Faktoren sind in Wechselwirkung miteinander verbunden – ein Einfluss kann alles verändern.
Die Unüberschaubarkei der Komplexität legt es uns natürlich nahe, diese Komplexität zu reduzieren. Wenn wir uns einen „freien Willen“ vorstellen, dann gelingt uns diese Reduktion und wir fühlen uns wieder wohler. Das Selbstbild einer Maschine wäre für uns psychisch unerträglich. Wir wollen uns als freie Menschen sehen, die aus freiem Willen Entscheidungen treffen und ihr Leben einigermaßen im Griff haben, keine „Opfer“ sind. Wir wollen uns nicht wie Plankton im Meer der Einflüsse treiben lassen. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg – und wenn dieser Weg nicht existiert, dann stellen wir ihn uns einfach vor. Und das ist auch gut so, denke ich.
Zurück zu meiner These von unserer Unfreiheit. Wenn ich mich in der beschriebenen Weise als Marionette sehe, als Ergebnis von Einflüssen, die ich letztlich nicht beeinflusse kann, die mir einfach „gegeben“ sind: was folgt daraus? Ich denke, dieser Gedanke kann zu mehr Gelassenheit führen. Ich kann nur beobachten, was ist und wie es ist, kann tun, was meiner Meinung nach getan werden muss, so weit das meine Fähigkeiten und meine Kräfte nicht übersteigt – und das alles im Wissen, dass ich mir deshalb noch lange nicht stolz auf die Schultern klopfen kann. Denn wenn ich es geschafft habe, Dinge zum Besseren zu wenden, dann habe ich das meinen Genen und den Verhältnissen zu verdanken. Ich hatte eben Glück, wenn sie zu der Situation gepasst haben, der ich ausgesetzt war.
Die Einsicht, dass es nicht mein Verdienst ist, wenn es mir gut geht, lehrt mich im besten Fall Dankbarkeit und Bescheidenheit. Dankbarkeit, weil mir z.B. die Einsicht und die Kraft zugewachsen ist, die mir halfen, die Dinge zum Besseren zu wenden. Bescheidenheit, weil das Schicksal (das Zusammenwirken aller Einflüsse) es gut mit mir gemeint hat. Auf mein „Ich“ kann ich nicht stolz sein, denn es hat nur reagiert. Dieser Gedanke schützt mich vor Überheblichkeit anderen Menschen gegenüber.
Und wenn es mir sehr schlecht geht, weil die Umstände sehr ungünstig waren und mein Wille und meine Kraft nicht ausreichten, „meine Schäfchen ins Trockene zu bringen“, dann kann das im schlechtesten Fall zu Enttäuschung und Verbitterung führen: dann beklage ich meine Lage und das Schicksal, das dazu geführt hat. Bei gleicher Ausgangslage werde ich – im besten Fall – trotzdem mein Leben als „gelungen“ empfinden, weil es mir gelingt, mich mit den belastenden Verhältnissen und mit meinen eigenen Grenzen zu arrangieren, weil ich nicht mehr dagegen angehe, nachdem ich erkannt habe, dass ich an ihnen nichts verändern kann. (Natürlich kann ich nicht wissen, ob sich noch etwas verändert bei mir oder bei den Verhältnissen. Deshalb ist es ja auch so schwer, sich mit ungünstigen Verhältnissen zu arrangieren und mit sich selbst Frieden zu schließen.)
Wenn ich nicht nur die individuelle, sondern auch die gesellschaftliche Ebene in den Blick nehme, dann komme ich zum gleichen Ergebnis. Aber hier fällt es mir emotional schwer, die Freiheit als Illusion zu sehen. Ich weiß ja, dass ich die positiven Verhältnisse, unter denen ich lebe (Demokratie, Rechtssicherheit, soziale Absicherung…) vielen Menschen zu verdanken habe, die dafür gekämpft haben, die sich also die „Freiheit“ genommen haben, gegen Widerstände anzugehen. Warum ist die Freiheit auch hier eine Illusion? Wenn jedes einzelne Individuum so leben muss, wie es lebt (siehe oben), kann es auch für die Summe der Einzelnen keine Spielräume geben, in denen wirklich freier Wille feststellbar ist und wirksam werden kann.
Was das praktische Leben anbelangt, so haben meine theoretischen Überlegungen zur Freiheit keine Auswirkungen auf unser Handeln. Wir halten mit guten Gründen fest an der Illusion, dass wir die Freiheit haben, die Verhältnisse unseres Lebens zu beeinflussen. Anders geht es nicht. Es kann uns ja egal sein, warum wir die Motivation, die Fähigkeit und die Kraft haben, in die Verhältnisse nach unseren Vorstellungen einzugreifen. Hauptsache, wir haben diese Motivation, Fähigkeit und Kraft. Es ändert sich nur in unserer Einstellung denen gegenüber etwas, die diese Eigenschaften nicht haben. Sie sind nicht weniger Wert deshalb. Sie haben nur ein anderes Schicksal, sie haben Pech gehabt.
Jeder lebt sein Leben so gut er kann. Er kann es nur im Rahmen all der Bedingungen, denen er unterworfen ist. Auch sein als frei empfundener Wille ist diesen Bedingungen unterworfen.
Das kann man Determinismus nennen – allerdings ist deshalb unser Leben nicht voraussagbar. Denn die Millionen Einflüsse, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen und unseren Willen lenken, sind unendlich variabel und nur in sehr geringem Maße kalkulierbar.
Mein Fazit: halten wir uns vor Bewertungen und Urteilen über den Lebensweg anderer Menschen und unseres eigenen Lebensweges zurück. Begreife wir es als Glück, wenn wir vom Schicksal begünstigt wurden, und ertragen wir das Pech, wenn wir weniger begünstigt wurden. In jedem Fall sollten wir die Chancen, die sich uns bieten, ergreifen. Und wenn wir sie nicht ergreifen, dann hat das auch seine Gründe, an denen wir offensichtlich nichts ändern konnten – aus welchen Gründen auch immer.
Schlussbemerkung: dieser Text, den ich geschrieben habe, wirkt sich auf den Leser als Einfluss aus. Wenn der Text missverstanden wird, dann erzeugt er Passivität (also die Vorstellung: was ich denke und tue, ist ja nur Ergebnis der auf mich einwirkenden Einflüsse, also ist alles Bemühen nur Illusion. Ich lasse mich also treiben wie das Plankton im Meer). Wenn der Text richtig verstanden wird, dann hat er keinen Einfluss auf die Lebensgestaltung des Einzelnen – mit Ausnahme einer Empfindung von Demut im besten Sinne: das Leben hinnehmen als Geschenk des Schicksals, sich selbst annehmen als einen Menschen mit Grenzen, die Verhältnisse als Rätsel betrachten, das viele Lösungen zulässt. zum Inhaltsverzeichnis
Deine Meinung