Je schwerer begreifbar Teile unseres Lebens werden, desto mehr sind wir auf Experten angewiesen, die uns die Welt erklären – sei es hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge, sei es beim Verstehen technischer Prozesse und ihrer Nebenwirkungen, sei es bei Fragen unserer Gesundheit und sonstiger für uns wichtiger Themen. Das ist gefährlich, denn in all den Fällen, in denen wir auf Expertenwissen angewiesen sind, müssen wir vertrauen – ob wir wollen oder nicht. Wir können aus eigener Kraft kaum überprüfen, ob unser Vertrauen gerechtfertigt ist oder nicht.
Wenn ich eine Arztpraxis oder eine Werkstatt aufsuche, kann ich nur hoffen, dass der Experte, dem ich meine Gesundheit oder mein Auto anvertraue, seine Kunst beherrscht und diese auch gewissenhaft anwendet. Zwar kann ich eine Zweit- oder sogar Drittmeinung anderer Experten einholen oder mir im Internet oder aus Büchern selbst (immer nur ungenügendes) Wissen aneignen, aber das löst nicht mein Dilemma: ich bleibe einer, der die Ergebnisse der Begutachtung – Diagnose und Therapie – mehr oder weniger gläubig oder zweifelnd hinnehmen muss – und sich zumindest teilweise verabschiedet vom Leitspruch der Aufklärung: „habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Ich möchte im Folgenden die Rolle und den Einfluss von Experten am Beispiel der Politik untersuchen. Je komplexer und undurchschaubarer das moderne Leben und seine politisch zu entscheidenden Sachzusammenhänge geworden sind, desto schwerer wird es für Staatsbürger und Politiker, sich ein Urteil darüber zu bilden, welche politischen Maßnahmen welche Folgen nach sich ziehen. Die Sorge ist berechtigt, dass ein gut gemeintes Gesetz den beabsichtigten Effekt verfehlt und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, weil bestimmte mögliche Auswirkungen dieses Gesetzes nicht erkannt worden sind. Politiker sind daher gezwungen, sich von Experten beraten zu lassen, die sich professionell mit den vom Gesetzesvorhaben berührten Wissensgebieten befassen. Darin besteht ein Dilemma moderner demokratischer Politik. Die Politiker müssen den Experten ein entsprechendes Vertrauen entgegenbringen – und doch haben sie selbst die volle Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen.
Dieses Dilemma ist in der Praxis nicht vollständig auflösbar, lässt sich jedoch entschärfen. Dies kann geschehen, indem der Politiker, der die Entscheidung zu treffen hat, das Wissen und die Bewertungen der Experten so gut es geht nachvollzieht und auf dieser Grundlage die
Empfehlungen der Experten kritisch überprüft, bevor er sich nach ihnen richtet. Er muss sich also in gewisser Weise selbst zu einem Halbexperten machen. Das geht aber nur arbeitsteilig. Deshalb gibt es in jeder Fraktion Politiker, die sich in bestimmte Sachzusammenhänge (z.B. Bildung, Gesundheit, Umwelt…) eingearbeitet haben und in den entsprechenden parlamentarischen Fachausschüssen sitzen. Die Fraktion folgt bei der Abstimmung über ein Gesetz im Normalfall der Empfehlung ihres „fachkundigen“ Kollegen.
In erster Linie werden die Politiker von Experten beraten, die in der öffentlichen Verwaltung tätig sind. Von diesen in aller Regel hoch qualifizierten Fachleuten kann vermutet werden, dass sie an keine Partialinteressen gebunden sind und sich dem Interesse der Allgemeinheit verpflichtet fühlen. Ihre Aufgabe ist es, verwaltungsinternes und -externes Expertenwissen, das dem neuesten Stand der Wissenschaft entspricht, so zusammenzufassen und aufzubereiten, dass der Politiker die Zusammenhänge versteht und sachgerecht entscheiden kann.
Nicht nur bei der Vorbereitung von Gesetzestexten, sondern auch bei der Planung von Großprojekten sind in aller Regel sehr komplexe Sachverhalte zu berücksichtigen – etwa bei der Planung von Fernstraßen, Wasserstraßen, Flugplätzen, Mülldeponien, Freizeitanlagen. Auch hier bedienen sich die Politiker auf kommunaler und Länderebene der Beratung durch Experten.
Wenn Fachverwaltungen, Institutionen oder Gutachterbüros Politiker beraten, leiten sie ihren Einfluss aus ihrer Sachkompetenz ab (»Wissen ist Macht«). Allerdings bleiben sie der Politik dabei immer untergeordnet. Sie haben Fragen der Politiker zu beantworten: Welche Wirkung wird eine bestimmte Maßnahme haben? Welche Handlungsoptionen gibt es, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen? Was wird geschehen, wenn es so weiter läuft wie bisher? Wie unterscheidet sich davon die Alternativen A, B und C? Mit welchen wirtschaftlichen, sozialen und/oder ökologischen Kosten/Nachteilen oder Gewinnen/Vorteilen ist zu rechnen?
All diesen Fragetypen ist gemeinsam, dass Experten keine Ziele setzen, sondern lediglich die Konsequenzen von vorgegebenen Zielen bzw. Maßnahmen abschätzen. Der legitime Experteneinfluss gerät dann mit demokratischen Prinzipien in Konflikt, wenn Lobbyisten im Gewande von unabhängigen Experten als politische Berater auftreten (siehe Dem.14). Ein Experte missbraucht das in ihn – genauer: in seine Sachkompetenz – gesetzte Vertrauen, wenn seine Beratung wegen interessengeleiteter Betrachtungsweise einseitig erfolgt. Da schwer zu beurteilen ist, ob ein Experte unabhängig ist, bedarf es der Offenheit des Beratungsprozesses. Die Empfehlungen und deren Begründungen müssen für die kritische Öffentlichkeit nachvollziehbar und überprüfbar sein. Nicht selten müssen dafür wiederum Experten in der Funktion als »Gegengutachter« zur Hilfe genommen werden.
Beratungen über politisch zu entscheidende Gesetze und Großprojekte ohne transparente öffentliche Erörterung – hinter verschlossenen Türen, wie es zurzeit beim geplanten Freihandelsabkommen TTIP geschieht – sind empfänglich für von Partialinteressen gesteuerte Expertenherrschaft, die das Licht der Öffentlichkeit scheut. Wenn sich hinter dem Expertentum Lobbyarbeit versteckt, beruht der daraus gewonnene Einfluss auf einem Schwindel. Dieser ist gefährlich, weil er zu falschen politischen Entscheidungen führt und darüber hinaus das Vertrauen in demokratische Verfahren und Institutionen untergräbt. zum Inhaltsverzeichnis
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