Die öffentliche Meinung ist zum Beispiel für Gerechtigkeit und gegen Privilegien, für fairen Umgang miteinander und gegen die Ausübung von Macht, will die Umwelt schützen, befürwortet, dass Kranken geholfen wird und Schwache von Starken nicht ausgenutzt werden, verurteilt Lügen und Halbwahrheiten. Die „öffentliche Meinung“ wirkt wie eine nicht greifbaren Instanz mit Autorität: „So denkt und fühlt man“. Aber wer ist „man“? Wie kann die öffentliche Meinung missbraucht werden?
Bei den genannten Beispielen fällt auf, wie verschwommen sie sind. Sie bringen sehr allgemein gehaltene Maßstäbe zum Ausdruck, über die weitestgehender Konsens herrscht. Ich verstehe sie als eine Art Sockel der allgemein geteilten Vorstellungen von richtig und falsch, gut und böse. Ein „Sockel“ sind sie insofern, als auf ihrer Grundlage sehr unterschiedliche Folgemeinungen aufgebaut werden können, deren Gestalt kontroverse Debatten auslösen.
Solche Debatten entstehen unweigerlich dann, wenn es darum geht, was im konkreten Fall unter Gerechtigkeit, Privilegien, Macht, Sorge für Schwache und Kranke, Schutz der Umwelt und korrekte Berichterstattung zu verstehen ist – vor allem dann, wenn die Konkretisierung des einen Maßstabs mit der eines anderen Maßstabs in Widerspruch gerät. Wir schränken dann ein.
Einige Beispiele: Kranken soll zwar geholfen werden, jedoch wollen wir nicht, dass dabei Grundsätze des möglichst sparsamen Einsatzes der dafür notwendigen Mittel verletzt werden. Wir sind zwar für Gerechtigkeit, denken dabei jedoch auch an die sog. Leistungsgerechtigkeit, die darauf hinausläuft, dass ein wohlhabender Mensch mehr Entfaltungsmöglichkeiten nutzen kann als ein Mensch, der mit seinem Einkommen gerade so über die Runden kommt. Wir sind zwar gegen Privilegien, halten jedoch teure Privatschulen für gerechtfertigt, die sich arme Familien nicht leisten können. Wir wollen materiell schwachen Menschen zwar gern auf die Beine helfen, fürchten jedoch, von ihnen ausgenutzt zu werden. Wir wollen die Umwelt schützen, aber das nur dann, wenn die uns wichtigen Aktivitäten dadurch nicht einschränkt werden. Wir sind gegen Machtausübung, akzeptieren jedoch Eigentumsrechte und Autoritären: dass der Wohnungseigentümer mehr Macht hat als der Mieter, der Arbeitgeber mehr als der Arbeitnehmer. Wir wollen zwar korrekte Informationen, sind aber zu träge, den dafür notwendigen Aufwand zu treiben und begnügen uns mit den Informationen aus Medien, also mit Informationen, die mehr oder weniger einseitig, nur halbwahr, oberflächlich, schönfärberisch, effekthascherisch sind – richten uns also bequem ein in der „Illusion der Informiertheit“.
Die Beispiele zeigen: Ein Wert (Maßstab) hat keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit und muss sich Relativierungen gefallen lassen. Und das ist völlig in Ordnung. Es geht also in konkreten Lebenssituationen immer um eine Abwägung: wie lassen sich widersprechende Maßstäbe miteinander in Einklang bringen, ohne unser Empfinden von „gut“ und „richtig“ zu verletzen? Das ist leichter gesagt als getan. Im privaten wie im öffentlichen Raum streiten wir uns bis zum Umfallen über die im konkreten Fall „richtige“ Antwort zum Beispiel in Fragen von Gerechtigkeit und Macht.
Wo liegt das Problem? Ich sehe es in der Gefahr der Manipulation von Meinungen durch Medien. Zeitungen etwa müssen sich im Rahmen der „öffentlichen Meinung“ bewegen, wenn sie nicht einen Sturm der Entrüstung entfachen wollen. Die Kommentatoren führen ihre Argumentationen also stets auf die Werte zurück, die allgemein konsensfähig sind. So weit so gut. Aber dieser Zusammenhang von Wertmaßstab und Information kann durchaus problematische Formen annehmen. Wenn zum Beispiel das Massenblatt BILD mit Balkenüberschriften Missstände anprangert oder eine gute Tat lobt, dann geschieht das immer vor einer Folie von unbestreitbaren Wertmaßstäben. Die BILD schwelgt geradezu im Ton der edlen Gesinnung – und erreicht es damit, unmittelbar die Gefühle ihrer Leser anzusprechen. Und diese reagieren in vorhersehbarer – beabsichtigter! – Weise mit Sympathie oder Abneigung. Bekanntlich belästigen Massenblätter ihre Leser nicht mit Details, sondern bevorzugen einfache Antworten auf komplexe Fragen. Es werden also die Sachverhalte, um die es geht, stark vereinfacht. Manche Informationen werden gezielt weggelassen, andere betont. Und damit wird eine – von den Machern des Blattes – erwünschte Stimmung erzeugt.
Diese Weise der Auseinandersetzung mit Fragen der Zeit nenne ich Manipulation. Sie widerspricht dem Anspruch der Aufklärung: “sapere aude“, „habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Der Verstand ist, um zu einem begründeten Urteil kommen zu können, auf hinreichende und korrekte Informationen angewiesen. Diese dürfen nicht durch bewusst erzeugte Gefühle ersetzt werden. zum Inhaltsverzeichnis
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