Überall heißt es: „Sei Du selbst!“ oder „Werde der Du bist!“ Aber das setzt voraus, dass ich weiß, wer ich bin. Woher soll ich das denn wissen? Ich kann mich beobachten – o.k. Aber dann stelle ich fest, dass ich sehr viel Wert darauf lege, von anderen Menschen gemocht oder zumindest nicht abgelehnt zu werden. Und ich stelle auch fest, dass ich manchmal Gedanken und Gefühle habe, die ich anderen Menschen nicht zumuten will, also lieber verberge. Denn wenn ich meinen Mitmenschen alles ganz offen und ehrlich – ganz ohne die Maske der Höflichkeit – mitteilen würde, was da gerade an Schlechtigkeiten in mir vorgeht, dann würde ich sehr schnell ganz übel anecken. Dann dürfte mich nicht wundern, wenn diese Menschen mich als anstrengend, merkwürdig, leicht daneben empfinden oder gar für bösartig halten. Außerdem mag ich an mir selbst manches nicht: manche Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, manche Gefühle, die unreflektiert in mir aufsteigen, krass egoistisches Verhalten. Wenn ich solche sozial unverträglichen bis unmoralischen Seiten an mir entdecke, dann möchte ich mich ändern, möchte mich erziehen.
Den gelegentlichen Wunsch, sich zu ändern, hat wohl jeder, denke ich. Aber das würde dem Postulat „Sei Du selbst!“ widersprechen. Wenn ich mich ändern will, dann doch deswegen, weil ich etwas an mir erkannt habe, was ich nicht gut finde – und das aus zwei Gründen:
Der eine Grund für die Selbstkritik ist, dass ich denke, bestimmten Leistungsanforderungen nicht zu genügen, also zu träge oder zu faul zu sein, mich zu wenig bemühe, zu wenig trainiere. Ich will nicht erfolglos sein, nicht zu dick, nicht komisch gekleidet. Das nenne ich „äußere Anpassung.“
Der andere Grund kann sein, dass ich – wie bereits angedeutet – bestimmten charakterlichen Standards nicht entspreche, die man von mir erwartet oder die ich selbst von mir erwarte. Den Wunsch, auf charakterliche Eigenschaften bezogene Erwartungen zu genügen, nenne ich „innere Anpassung“. Auf diese beziehe ich mich in meinem weiteren Gedankengang.
Es macht einen großen Unterschied, ob ich mit meinem Denken, Fühlen und/ oder Verhalten unzufrieden bin und mich entsprechend ändern will, um den Erwartungen meiner Mitmenschen zu genügen, oder ob ich mich ändern will, weil ich es selber will. Es ist manchmal schwierig, beides auseinander zu halten. Denn manchmal meine ich, etwas ganz aus mir selbst heraus zu wollen, aber gerate in den Zweifel: mache ich mir nur etwas vor? Will ich etwas vielleicht nur deshalb, weil ich – siehe oben – nicht anecken will bei meinen Freunden und Bekannten?
Überspringen wir mal diesen Selbstzweifel. Nehmen wir also an, ich kritisiere mich selbst völlig unabhängig von der (vermuteten) Meinung meiner Mitmenschen über mich. Ich messe mich dann an einem in mir liegenden Maßstab, den man auch „Gewissen“ nennt. Aber auch in diesem Fall entdecke ich: dieser Maßstab für gut und böse kommt von außen, von der Gesellschaft, etwa aus einer bestimmten Weltanschauung oder Religion oder politischen Position. Ich habe diesen Maßstab in Gestalt meines Gewissens verinnerlicht.
Was nun? Ich ziehe daraus den Schluss, dass ich kein vollständig autonomes Individuum sein kann, sondern immer eingebunden bin in ein gesellschaftliches Wertesystem. Das klingt zwar banal, aber ich finde es doch bemerkenswert, wenn ich mir das für mein Selbstverständnis klar mache.
Die Absage an die ziemlich berauschend wirkende Phantasie von Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit im Sinne vollständiger Autonomie ist keine totale Absage an den Wunsch, autonom sein zu wollen. Wir wollen, wie schon gesagt, alle möglichst unabhängig sein von den Einflüsterungen unserer Umgebung, wollen „wir selbst“ sein. Die Absage an die Möglichkeit vollständiger Autonomie lässt noch Raum für die Vorstellung von einer graduell abgestuften Autonomie: auch wenn ich nicht ganz autonom bin, so kann ich doch mehr oder weniger autonom sein. Und hinsichtlich dieser eingeschränkten Autonomie spielt mein Umgang mit meinem Gewissen eine entscheidende Rolle.
Wenn ich kritisch mit den auf mich einwirkenden Gefühls-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten meiner Umgebung umgehe, also gesellschaftliche Normen, die in meiner Bezugsgruppe gelten, erst nach kritischer Prüfung übernehme und als Gewissen verinnerliche, dann spiegelt sich im Hören und Befolgen der „Stimme meines Gewissens“ das Maß meiner Autonomie. Mit anderen Worten: je mehr ich meinem (reflektierten) Gewissen folge, desto mehr ist mein Urteilen und Verhalten mein eigenes, selbständiges Urteilen und Verhalten – macht sich also unabhängiger von den Erwartungen meiner Mitmenschen. (Zu diesem Thema siehe auch Beitrag 2) zum Inhaltsverzeichnis
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