Wer oder was beherrscht uns? Das ist eine schwierige Frage – aber gern wird sie sehr einfach beantwortet: das Finanzsystem, „der Kapitalismus“, die Wirtschaftselite. Das gefährliche an diesen einfachen Antworten ist, dass sie teilweise stimmen. Aber eben nur teilweise.
Ich stoße zum Beispiel auf folgenden Text: „Die Bürger bestimmen nicht mehr, sie werden bestimmt. Es steht schlecht um die Demokratie. Der Souverän ist zum Spielball einer skrupellosen und unmenschlichen Politik geworden. Die neoliberale und kapitalistische Wirtschaftsweise mit ihrem beständigen Ruf nach immer mehr Wachstum ist nahezu in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vorgedrungen. Diese Ideologie sitzt tief in unseren Köpfen. Sie prägt unser Menschenbild – ohne Rücksicht auf den Einzelnen. Wenn wir eine gerechte Gesellschaft freier und selbstbestimmter Bürger werden wollen, brauchen wir eine „schöpferische Demokratie“ und nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag.“
Das klingt nach Abschaffung des bestehenden Systems und völligem Neuanfang. Sehr viele kritische Bürger applaudieren solchen „radikalen“ Aussagen. Es scheint eine einfache Lösung zu geben: ein neuer Gesellschaftsvertrag muss her!
Aber bei genauerem Lesen merken wir, dass der Text in sich widersprüchlich ist. Einerseits heißt es, die Politik sei „skrupellos und unmenschlich“ geworden (implizit unterstellt: früher war es besser), andererseits wird die Ursache des schlechten Zustands unserer Demokratie in der „neoliberalen und kapitalistischen Wirtschaftsweise“ gesehen, wie sie in den skandinavischen Ländern, in Deutschland und in den USA herrscht. Aber in diesen Varianten sehe ich große und wichtige Unterschiede. Zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, die sich der „neoliberalen und kapitalistischen Wirtschaftsweise“ bedienen, ist die „Soziale Marktwirtschaft“ (noch) beachtlich gut ausgeprägt.
Es wird also völlig undifferenziert „das System“ („die kapitalistische Wirtschaftsweise“) an den Pranger gestellt, ohne genauer zu sagen, was darunter verstanden wird. Ein Wirtschaftssystem ohne Wachstum ist gewollt. Das leuchtet ein. Aber welches Wachstum ist angesprochen? Ist quantitatives oder qualitatives Wachstum gemeint? Soll die Produktivität nicht mehr zunehmen? Soll das Wachstum der Gesamtwirtschaft (BIP) oder das einzelner Unternehmer vermieden werden? Sollen nur die wohlhabenden oder auch die industriell unterentwickelten Volkswirtschaften nicht mehr wachsen? Wie wird die Wachstumsfrage mit der Verteilungsfrage verknüpft? Oder geht es nur um die Kritik am Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen? Geht es um den Klimawandel und die Vermeidung klimaschädlicher Gase? Das bleibt alles offen.
Und schließlich werden wir Individuen als Ursache der „Wachstumsideologie“ diagnostiziert: diese Ideologie sitze tief in unseren Köpfen. Es liegt also an unserer Einstellung. Aber ist es nicht der Anspruch der Demokratie, dem Willen der Bevölkerung zu folgen? Wenn wir in unseren Köpfen die „falschen“ Gedanken und Wünsche haben – von wem auch immer diese in unsere Köpfe eingepflanzt wurden – dann kann demokratische Politik nicht „richtig“ sein. Denn die demokratisch gewählten Politiker haben den Auftrag, im Rahmen des Grundgesetzes das zu beschließen, was die Mehrheit will. Es gibt in der Demokratie keine Instanz, die sagen kann, welche Gedanken und Wünsche richtig und welche falsch sind. (Diese sehr pauschale Aussage ist wesentlich tiefgründiger in den Demokrtie-Beiträgen abgehandelt, z.B. in Dem8.-, Dem9.- und Dem10.-)
Wir verfügen in Gestalt unseres Grundgesetzes über eine gesetzliche Grundordnung mit großartigen moralischen Prinzipien, die den gewählten Politikern einen Rahmen vorgeben, die also verhindern, dass „im Namen der Mehrheit“ Gesetze erlassen, die zwar gerade besonders populär sind, die jedoch bestimmte höhere Werte (etwa die Achtung von Minderheiten) verletzen. Dieses Grundgesetz ist nichts anderes als ein Gesellschaftsvertrag, der sich über Jahrzehnte hinweg gut bewährt hat. Die darin enthaltenen Prinzipien (Werte, Maßstäbe, Grundsätze) sind zeitgemäß interpretierbar – und müssen durch konkrete und veränderbare Gesetze ausgefüllt und konkretisiert werden.
Was bleibt also von dem zitierten vollmundigen Text? Kommt es auf das System oder auf uns Bürger an? Ich denke: Sicherlich und unbestreitbar kommt es auf uns Bürger an, auf unser Menschenbild, auf unsere vorhandene oder nicht vorhandene Fähigkeit und Bereitschaft, unsere Köpfe nicht von einer Ideologie verwirren zu lassen. Die Demokratie kann nicht besser sein als das, wie die Bürger denken und was sie wollen.
Und wenn wir am Grundgesetz – dem bestehenden „Gesellschaftsvertrag“ – etwas ändern wollen, dann müssen wir nicht das gesamte Grundgesetz abschaffen, sondern sollten genau sagen, welche Sätze daraus wir nicht mehr oder anders wollen. Das gibt dann eine hoffentlich mit vernünftigen Argumenten bestrittene öffentliche Debatte, deren Ergebnis darin besteht, das Grundgesetz entweder gezielt zu ergänzen oder zu korrigieren – oder es so zu belassen wie es ist und nur bestimmte Gesetze neu zu erlassen. Dazu gehören auch Gesetze, die der Wirtschaft soziale und ökologische Schranken setzen, die also Rücksicht auf Schwache und auf die Natur verbindlich vorschreiben.
Im Text ist vom Kapitalismus die Rede – als Ursache allen Übels. Was ist damit gemeint? Karl Marx verstand in seinem „Kapital“ und im „kommunistische Manifest“ unter Kapitalismus eine Wirtschaftsordnung, in der der freie Markt ungehemmt herrscht. Er ging von unüberbrückbare Klassengegensätzen aus: die Eigentümer der Produktionsmittel auf der einen, die Lohnabhängigen auf der anderen Seite (Kapitalistenklasse gegen Arbeiterklasse). Die Kapitaleigner beuten die abhängig Beschäftigten aus, indem sie den „Mehrwert“ (den Gewinn) einbehalten und nur Hungerlöhne zahlen. Beim Einsatz des Kapitals führe die auf Konkurrenz basierende Wirtschaft zum tendenziellen Fall der Profitrate mit der Folge, dass der Kapitalismus sich sein eigenes Grab schaufelt: Kapitalakkumulation und Monopolbildung. Die schrumpfende Kapitalistenklasse finde für ihre Überproduktion nicht genügend Abnehmer, weil die Arbeitnehmer zu wenig verdienen, um die Waren kaufen zu können. An diesen Krisen gehe der Kapitalismus unter.
Als alternative Wirtschaftsordnung empfahlen Marx und Engels den Sozialismus und Kommunismus – eine Wirtschaftsordnung ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und ohne Lohnabhängige. Etwas siebzig Jahre lang wurden im zwanzigsten Jahrhundert diese Alternativen ausprobiert – von der Sowjetunion und dem Ostblock bis hin zu China und Cuba. Das ging total daneben. Die meisten Menschen wollten es nicht und ließen sich auch nicht umerziehen.
In den „kapitalistischen Ländern“ des Westens hat sich die von Marx und Engels vorhergesagte Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht eingestellt. Der Markt wurde in Gestalt der „Sozialen Marktwirtschaft“ – eine Kombination aus Planung und Marktkräften – weitgehend gezähmt: Durch Gewerkschaften und durch allerlei andere politische Kräfte wurden zahlreiche Gesetze erkämpft, die dem freien Markt Zügel anlegen, also seine Freiheit beschränken. Arbeitnehmerrechte, Mieterschutz, soziale Absicherung, Altersvorsorge und staatliche Einmischung im Sinne des Gemeinwohls – von Gesundheit über Bildung bis hin zu Mobilität und Energieversorgung – sorgten für einen allgemeinen Wohlstand, der nach marxistischer Theorie unvorstellbar war. Der Klassengegensatz wurde zwar nicht aufgehoben, aber auf eine Art gemildert, dass die meisten Menschen damit zufrieden waren. Denn Lohnerhöhungen schafften Wohlstand unter den abhängig Beschäftigten. Es entstand eine starke Mittelschicht aus relativ gut verdienenden Selbständigen und relativ gut bezahlten Arbeitern und Angestellten.
Der Neoliberalismus verstehen wir Bestrebungen, diese sozialen und ökologischen Errungenschaften wieder abzubauen, also den Markt von entsprechenden Regeln zu „befreien“. Dagegen gibt es zu Recht Widerstand – und es gibt gute Gründe, dem Finanzmarkt zusätzliche Regeln aufzuerlegen, damit er nicht weiterhin Krisen verursacht, die die Bevölkerung auszubaden hat. Aber auch diese Regeln müssen genau bedacht werden, damit sie sich in der gewünschten Weise auswirken. Das ist nicht so leicht.
Viel leichter sind Forderungen, das bestehende System abzuschaffen, zu überwinden. Als Alternative wird zum Beispiel das System der „solidarischen Ökonomie“ genannt: ohne Gewinnstreben, ohne Wettbewerb, ohne Risiken, ohne Krisen, ohne Armut und Umweltzerstörung.
Das klingt gut, allerdings auch sehr abstrakt. Es klingt nach Flucht aus der Anstrengung, sich mit der sperrigen Realität auseinanderzusetzen. Schwieriger ist die Differenzierung: was am bestehenden Wirtschaftssystem ist gut, was ist gut im Ansatz, funktioniert aber nicht, was ist schlecht? Was muss wie verändert werden? Schwierig ist zu untersuchen, ob und wie bestimmte Formen des Gewinnstrebens und des Wettbewerbs durch geeignete Gesetze begrenzt, wie Armut und Umweltzerstörung gemildert oder vermieden werden können – und das ohne ungewollte Nebeneffekte, die mehr Schaden als Nutzen stiften. Verbesserungen in Einzelschritten sind anstrengend, weil sie Sachverstand, Urteilsvermögen und die Fähigkeit des Abwägens verlangen.
Wem das zu schwierig ist, der fühlt sich besser, wenn er das gesamte Wirtschaftssystem in Frage stellen und seine Abschaffung fordern kann. Da ist er ja auch nicht so angreifbar wie bei konkreten Verbesserungsvorschlägen, die sofort auf Kritik stoßen und sich, wenn überhaupt, nur mit Kompromissen durchsetzen lassen. Man fühlt sich einfach lockerer und unangreifbarer, wenn man Ideale anstreben und das Nicht-Ideale ablehnen kann. Da ist man immer auf der guten Seite. Einen Mangel zu erkennen und anzuprangern ist eben leichter und befriedigt mehr, als sich auf kontroverse Debatten über geeignete Schritte zur Überwindung dieses Mangels einlassen zu müssen. zum Inhaltsverzeichnis
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