Woher kommt der Einfluss der Wirtschaftführer auf die Politik, der den Einfluss aller anderen Vertreter gesellschaftlicher Gruppen in den Schatten stellt? Regieren uns die Superreichen – die Nutznießer der extrem ungleichen Vermögensverteilung – im Sinne des alten Spruchs: „Geld regiert die Welt“? So einfach ist es nicht.
Zunächst einige Infos zur ungleichen Vermögensverteilung.
Laut einer von Oxfam in Auftrag gegebenen Studie besaß im Jahr 2009 ein Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des Wohlstands. Im Jahr 2014 waren es 48 Prozent und bald sollen es 50 Prozent sein. Achtzig Prozent der Menschheit müssen sich 5,5 Prozent des Reichtums teilen. Die Hilfsorganisation Oxfam kommentiert: Diese Ungleichheit sei nicht nur unmoralisch, sondern eine Gefahr für Demokratie, sozialen Frieden und Ökonomie. Hunderte Millionen Menschen seien quasi zur Armut verdammt und hätten keine Chance, ihre Talente zu entwickeln (SZ vom 20.1.2015).
Deutschland hat in der Euro-Zone die größte Vermögensungleichheit, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW festgestellt hat. Die reichsten zehn Prozent aller Haushalte in Deutschland vereinen auf sich 63 bis 74 Prozent des Gesamtvermögens. Dem reichsten ein Prozent der Deutschen gehört ein Drittel (31 bis 34 Prozent) des Gesamtvermögens. Und 0,1 Prozent der reichsten Deutschen verfügen über 14 bis 16 Prozent des Gesamtvermögens. (Südd. Zeitung vom 11.2.2015)
Die Organisation Oxfam fordert, die Staaten sollten die Steuerflucht erschweren und den Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze aufgeben. Kapital dürfe nicht günstiger besteuert werden als Arbeit. Die Regierungen dürften den Reichen nicht erlauben, ihre Interessen durchzusetzen. Das untergrabe das Vertrauen in die Demokratie.
Anders als heute sei die in der Nachkriegszeit die Politik gerechter Vermögensverteilung in Europa und den USA vorbildlich gewesen. Ein Vorbild seien auch die aktuellen Anstrengungen Lateinamerikas – der einzigen Weltgegend, wo die Ungleichheit abgenommen habe. Ausschlaggebend dabei seien Regierungen, die sich der Mehrheit verpflichtet fühlten und nicht einer kleinen exklusiven Elite.
Eine Zwischenbemerkung von mir zur Steuerflucht: Was haben hinreichende Steuereinnahmen des Staates mit geringem Einkommen zu tun? Über Steuern kann der Nachteil von Armut gelindert werden, indem der notwendige Aufwand des Einzelnen für Bildung (Kindergärten, Schulen, Unis, Berufsausbildung), Gesundheit, Mobilität (ÖPNV), Nutzung kultureller Angebote, Erholung in städtischen Grünanlagen, Wohnen und Pflege im Alter, Sicherheit (Polizei), soziale Absicherung und Fortbildung nach Arbeitsplatzverlust und andere Leistungen des Gemeinbedarfs ganz oder teilweise von der öffentlichen Hand getragen wird. Sehr reiche Menschen können auf solche Leistungen verzichten, weil sie in der Lage sind, sie sich zu kaufen.
Steuerflucht ist Raub an armen Menschen, wenn dadurch dem Staat Mittel für den sozialen Ausgleich fehlen. Das darf nicht sein. In einem demokratischen Staat mit sozialer Marktwirtschaft ist die Teilnahme aller am Wirtschaftsleben und die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum eine Forderung, der sich jeder politisch denkende und engagierte Bürger, der die Menschenrechte ernst nimmt, verpflichtet fühlen muss. Das geht über die Aufgabe des sozialen Staates hinaus, hilsbedürftigen Menschen zu helfen und ihnen eine neue Chance möglich zu machen. Die Möglichkeit zur allgemeinen Teilnahme und Teilhabe bedeutet auch, dass der Staat die Wirtschaft mit geeigneten Rahmenbedingungen dazu bringen muss, dass jeder seiner arbeitswilligen Bürger über einen Arbeitsplatz verfügt, der ihm ein hinreichendes Einkommen bietet. Denn das ist die materielle Voraussetzung für Freiheit.
Nach aktuellen Berechnungen der UN-Arbeitsorganisation ILO wird die Zahl der Arbeitslosen weltweit in den nächsten fünf Jahren auf 212 Millionen steigen. 31 Millionen Menschen haben seit der Finanzkrise 2008 ihren Arbeitsplatz verloren. Gerade die Arbeitslosigkeit sei es, die die soziale Ungleichheit verstärke. Vor allem in den hoch entwickelten Ländern weite sich die ungleiche Einkommensverteilung aus. In ärmeren Staaten und vielen Schwellenländern verharre sie auf hohem Niveau (SZ vom 20.1.15).
Die Occupy-Bewegung, die 2011 mit dem Ruf „wir sind die 99%“ zuerst in New York und dann auch in fast tausend Städten in mehr als 80 Ländern demonstrierten und Plätze besetzten, ist ein Beispiel dafür, wie sich hunderttausende Demonstranten in der ganzen Welt im Namen der Mehrheit gegen soziale Ungerechtigkeit und die Wirtschaftsmacht der Superreichen zur Wehr gesetzt haben.
Und politisch Aktive wie das in vielen Ländern präsente globalisierungskritische Netzwerk Attac, versuchen – gestützt auf einen wissenschaftlichen Beirat – mit guten Argumenten die gesellschaftliche Debatte zu beeinflussen.
Wo waren die Gegendemonstranten, die im Namen der Mehrheit die kritisierte Vermögensverteilung verteidigt und gute Gründe dafür ins Feld geführt haben? Es gab sie nicht – und trotzdem halten die demokratisch gewählten Abgeordneten in allen Industrieländern an einer Politik fest, mit der die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gefördert wurde. Die Macht der Wirtschaft hat also nichts damit zu tun, was hunderttausende Menschen bei Demonstrationen fordern und was sozial engagierte Wissenschaftler an Argumenten vortragen.
Die folgenden Zitate zeigen an einem Beispiel, wie sich ein und der selbe Politiker je nach seiner Funktion mal als Sprachrohr für soziale Rücksichtnahme oder für wirtschaftliche Interessen geben kann: In seiner Rede zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung am 21.02.2013 sprach der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel noch davon, dass er in diesem Bericht erschreckende Zahlen gefunden habe: „12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder unter der Armutsgrenze. Mitten in Deutschland stehen täglich 1,5 Millionen Menschen für altes Brot Schlange, weil sie sich frisches nicht einmal mehr in den Discountläden leisten können. 2,4 Millionen Kinder sind armutsgefährdet, weil ihre Eltern, obwohl sie arbeiten, kein anständiges Einkommen haben.“ Inzwischen ist Gabriel Wirtschaftsminister und bezeichnet anlässlich seines Besuchs beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos (2015) die Deutschen als „hysterisch“, weil sich sehr viel Menschen gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP mit den USA ausgesprochen haben – mit guten Gründen, denn dieses Abkommen würde soziale Standards, Regeln im Verbraucher- und Umweltschutz und Teile der kommunalen Daseinsvorsorge gefährden. Eine umstrittene Klausel würde zudem Konzernen erlauben, über private Schiedsstellen Schadensersatz in Milliardenhöhe von Staaten einzuklagen, die mit einer Erhöhung der Standards die Gewinnerwartungen der Konzerne herabsetzen. Solche wirtschaftskritischen Argumente werden leichthin vom Tisch gefegt, um den in Davos versammelten Wirtschaftsführern zu gefallen.
Meine Erklärung für die Macht der Wirtschaft in der Politik:
Die Vertreter der Wirtschaft sind in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung Vertreter der Kräfte, die Wohlstand schaffen und bewahren. Niemand will riskieren, dass sein Arbeitsplatz gefährdet wird, dass er weniger verdient, dass seine beruflichen Chancen geringer werden. Man glaubt den Sprechern der Wirtschaftsinteressen als „Experten für Wohlstand“ mehr als den Experten, die für sozialen Ausgleich eintreten und angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich vor Gefahren warnen, die für Demokratie, sozialen Frieden und Ökonomie heraufbeschworen werden.
Die größte Macht der Unternehmen besteht in ihrer Möglichkeit zu entscheiden, wo sie ihr Kapital investieren – und damit Arbeitsplätze in Deutschland entweder schaffen oder abschaffen (durch Ersatz von Arbeit durch Maschinen und/ oder durch Verlagerung von Produktionsstätten an einen anderen Standort). Auf diese Entscheidung hat die Politik bei offenen Märkten (Standortwettbewerb) nur indirekten Einfluss: indem sie den Wirtschaftsstandort entweder wirtschaftlich attraktiv macht oder – aus Unternehmersicht – unattraktiv.
Wir haben es unzählige male beobachten können: Wenn Vertreter der Wirtschaftselite – Wirtschaftsverbände, Wirtschaftsinstitute, Sprecher von Konzernen und großen Finanzinstitutionen – behaupten, ein geplantes Gesetz schade der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland und führe daher zum Verlust sehr vieler Arbeitsplätze, dann erzeugen sie damit so viel Angst in der Bevölkerung, dass kaum ein Politiker es mehr wagt, an diesem Gesetzesvorhaben festzuhalten. Also wird der Gesetzesentwurf so lange „entschärft“ (wie eine Bombe), bis die Sprecher der Wirtschaftsinteressen mit dem Gesetz einverstanden sind – immer begleitet vom Wehklagen darüber, dass dieses Gesetz der deutschen Wirtschaft eine schwere Last aufbürde.
Entscheidend in einer aktuellen geschichtlichen Situation ist die Frage, ob die Angst der Bevölkerung vor (erheblichem) Wohlstandsverlust berechtigt ist oder nicht. Wenn sie berechtigt ist, dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, wenn die meisten Bürger den Interessen der Wirtschaft Vorrang einräumen. Wenn die von der Wirtschaftslobby verbreitete Angst unberechtigt (also die Prognose falsch) ist, dann müssen neutrale Forschungsinstitute darauf aufmerksam machen. Aber daran fehlt es (siehe Beitrag 14 zum Lobbyismus).
Der erste Grund für die überragende Macht der Wirtschaft ist also die Angst vor Wohlstandsverlust in der Bevölkerung. Der zweite Grund ist der fast schon religiöse Glaube der Bevölkerung und ihrer Abgeordneten an das sehr begrenzte Wissen der Ökonomen. Volkswirte erstellen im Namen der Wissenschaft Analysen und Prognosen, die für wahr gehalten werden, obwohl sie auf sehr schwankenden Füßen stehen.
Zum begrenzten Wissen: Wir können täglich in den Medien Szenen verfolgen, wie anerkannte Kapazitäten der Wirtschaftswissenschaft einander widersprechen. Sie berufen sich auf unterschiedliche Theorien, auf Studien mit Ergebnisse, die so oder anders interpretiert werden können, auf Prognosen, die auf zweifelhaften Prämissen beruhen, und auf Modelle, die die Wirklichkeit so stark vereinfachen, dass sie in der Praxis versagen.
Thomas Piketty, Professor der Volkswirtschaft an der École d’Économie de Paris, hat in dem kürzlich erschienenen sehr bekannten Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ seine Forschungsergebnisse über die Mechanismen der Vermögensverteilung veröffentlicht. Er hat nachgewiesen, dass seit etwa dreißig Jahren die Vermögen der Reichen schneller wachsen als die normale Wirtschaft. Nicht der Arbeitnehmer, sondern wenige Reiche mit Kapital profitieren von der gestiegenen Produktivität. Piketty ist einer der wenigen Wirtschaftswissenschaftler, die offen über die Grenzen ihres Faches sprechen. Im Rahmen eines Interviews der Süddeutschen Zeitung sagte er: „Volkswirte halten ihre Zunft für wissenschaftlicher als andere Soziallehren. Das ist schlicht falsch. Wir wissen noch sehr wenig in der Ökonomie, wir befinden uns auf einem niedrigen Niveau. Das ist nichts Schlechtes, wir können uns ja entwickeln. Aber wir müssen uns dessen bewusst sein.“ (SZ vom 4./5. Okt. 2014).
Dieses Bewusstsein fehlt in der Öffentlichkeit. Speziell Medien und Politiker neigen dazu, den Realitätsgehalt von Aussagen und Prognosen aus der Feder von Experten der Volkswirtschaftslehre zu überschätzten. Und die Volkswirte (Sozialwissenschaftler) wiederum täuschen mit ihren mathematischen Formeln eine Exaktheit vor, wie sie nur in den Naturwissenschaften erreichbar ist. Dadurch erhalten zahlreiche ökonomische Indikatoren, die aus statistischen Durchschnittswerten abgeleitet sind, einen unzulässigen „Wahrheitsgehalt“ und eine Bedeutung, die ihnen nicht zusteht.
Das Wissen darüber, welche Einflüsse die ökonomischen Prozesse wie und mit welchen Nebenwirkungen beeinflussen, ist zwar sehr gering. Die Nachfrage nach den Ergebnissen von Voraussagen der wirtschaftlichen Entwicklung ist jedoch so groß, dass die großen Unsicherheiten von einschlägigen Experten akzeptiert und von volkswirtschaftlichen Laien ignoriert werden.
So haben die Wirtschaftslobbyisten ein leichtes Spiel, wenn sie mit dem Verweis auf Studien argumentieren, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Darin gleichen sie Glaubensbekenntnissen. Die Folge: Politiker berufen sich auf die Experten und Studien, deren Ratschläge bzw. Ergebnisse am besten in ihr politisches Konzept passen.
Das klingt nach Beliebigkeit. Aber so ist es nicht. Es geht um Überzeugungen vom richtigen Weg. Der Politiker folgt dem Ratschlag, von dem er überzeut ist, dass er richtig ist. Er will seine Entscheidungen im wohlverstandenen Interesse seiner Wähler treffen. Denn Politiker sind (fast alle) keine Gauner, auch wenn von Verächtern der repräsentativen Demokratie das Gegenteil verbreitet wird. Politiker sind zwar in gewisser Weise Opportunisten, weil sie sich bis zu einem gewissen Grad den Vorstellungen der Mehrheit anpassen müssen – sonst verlieren sie die ihnen bei der letzten Wahl anvertraute politische Macht. Aber sie passen sich dabei nur im Sinne eines taktischen Manövers an, das das große (nur längerfristig durchsetzbare) Ziel nicht aus den Augen verliert, sondern auf Umwegen anstrebt.
Es bleiben einige Fragen offen. Was passiert, wenn diejenigen Sozialwissenschaftler Recht behalten, die davor warnen, dass eine Politik im Schlepptau der Wirtschaftselite den sozialen Frieden zerstört und so die Demokratie untergräbt. Wie steht es mit der These, dass ein zu freier Markt einen Zwang ausübt, dem sich auch die Wirtschaftsunternehmen unterwerfen müssen? Sind die Mächtigen vielleicht nicht so mächtig, sondern müssen nach einer Marktlogik handeln, die ihnen nur wenige Spielräume erlaubt? Lässt sich der Markt politisch zügeln – und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Darüber wird in den folgenden Beiträgen nachgedacht. zum Inhaltsverzeichnis
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