Die westlichen Demokratien berufen sich auf die Tradition der Aufklärung. Der Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aus der Französischen Revolution hat seine Fortsetzung gefunden in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“, die 30 Artikel enthält. Die Menschenrechte erheben den Anspruch universeller Gültigkeit. Aber das schützt sie nicht davor, sehr unterschiedlich gedeutet und angewendet zu werden.
Diese Rechte sind zwar nicht einklagbar, jedoch verpflichten sich die Staaten, die die Menschenrechtserklärung unterschrieben haben (das sind fast alle), alles in ihrer Macht stehende zu tun, um für ihre Bürger diese Rechte zu gewährleisten. Ich greife vier Artikel (Rechte) heraus:
• Eigentumsrecht: „Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemein¬schaft mit anderen Eigen¬tum innezuhaben. Nie¬mand darf willkür¬lich seines Eigen¬tums beraubt werden.“ (Art. 17)
• Soziale Sicherheit: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit“ (Art. 22)
• Arbeit für alle: „Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.“ (Art. 23)
• Sicherung des Existenzminimums: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“ (Art. 25)
Schon diese Beispiele lassen erkennen, dass die in der „Allgemeine Erklärung“ formulierten Menschenrechte einen weiten Spielraum für ihre Interpretation offen lassen. Das fängt bereits beim Artikel 17 (Eigentumsrecht) an. Es wird zwar der Schutz vor willkürlichem Entzug des Eigentums garantiert, jedoch wird weder eine Enteignung noch eine Vergesellschaftung des Eigentums untersagt, wenn diese auf einer gesetzlichen Grundlage verfügt werden. Hier stoßen sich unterschiedliche Vorstellungen hart im Raum.
Während die Staaten mit kapitalistischer (marktwirtschaftlicher) Wirtschaftsordnung dieses Recht besonders stark machen, legen Staaten mit sozialistischer Ausrichtung einen größeren Wert auf die soziale Sicherheit (Art. 22) und auf das Recht auf Arbeit (Art. 23). Alle Staaten streben für ihre Bevölkerungen einen Lebensstandard an, der für alle Bürger zumindest die Befriedigung der Grundbedürfnisse in allen Lebenslagen garantiert (Art. 25).
Die westlichen Demokratien, die auf den Kapitalismus setzen – in unterschiedlicher Ausprägung: bei fast völlig ungebundenen Märkten („neoliberal“) in den USA, relativ stark reglementiert in den skandinavischen Ländern im Sinne der „sozialen Marktwirtschaft“ – rühmen sich ihrer Freiheit. Viele verstehen darunter in erster Linie die Freiheit der Unternehmer, Gewinne zu erwirtschaften (Gewerbefreiheit, Niederlassungsfreiheit, freier Wettbewerb). Auch die Meinungs- und Pressefreiheit werden für sehr wichtig erachtet.
Ich möchte nun im Hinblick auf die Menschenrechte die USA als Beispiel für eine westliche (liberale) Demokratie mit marktradikaler Ausprägung vergleichen mit einer (autoritären) Demokratie wie Russland, wo versucht wird, das Primat (die Vorrangstellung) der Politik gegenüber der Wirtschaft durch entsprechend starke Reglementierung (Begrenzung des Eigentumsrechts) durchzusetzen.
Zunächst einige Bemerkungen zu den westlichen Demokratien (z.B. USA, Frankreich…) und ihr Umgang mit dem Kapitalismus (Marktwirtschaft).
Für sie gilt ein wirtschaftspolitisches „Grundgesetzt“: Nur bei wettbewerbsfähiger Wirtschaft ist Wohlstand zu erlangen und aufrecht zu erhalten. Bei Verlust dieser Wettbewerbsfähigkeit droht Massenarbeitslosigkeit – und in Folge davon Sozialabbau, da bei drastisch abnehmenden Steuereinnahmen die sozialen Leistungen nicht mehr finanzierbar sind. Als Folge dieser Notlage ist die Demokratie gefährdet, weil sich rechts- und linksextreme (populistische) Massenbewegungen bilden, die mit Patentrezepten und Feindbildern mobilisiert und gelenkt werden.
Der in Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessene Wohlstand in einem Land – ein sehr eingeschränkter Wohlstandsbegriff – steht in einem Spannungsverhältnis zur Forderung nach sozialer Sicherheit. Einerseits kosten Sozialleistungen dem Staat Geld, von dem bei florierender Wirtschaft mehr zur Verfügung steht als an einem wettbewerbsschwachen Wirtschaftsstandort. Andererseits belasten soziale Rücksichten, die über das betriebswirtschaftlich Notwendige hinausgehen, ein Unternehmen durch die anfallenden Kosten. Diese sozial motivierte Kostenbelastung durch Sozialabgaben, Unternehmenssteuern und andere gesellschaftliche Verantwortungen darf die Wettbewerbsfähigkeit eines relevanten Anteils der Unternehmen nicht so weit herabsetzen, dass diese dadurch in existenzielle Schwierigkeiten geraten. Denn damit wäre niemandem gedient.
Der unternehmerische Erfolg hängt zwar von mehreren Faktoren ab, jedoch wird das Argument „das Gesetzt X gefährdet unsere Wettbewerbsfähigkeit“ gern und immer wieder von den Wirtschaftsverbänden benutzt, um die Politik zu mehr Wirtschaftsfreundlichkeit und zu weniger sozialer Sicherheit zu drängen. Bei schwieriger Wirtschaftslage wird dieses Argument von den Politikern als zwingend empfunden. Siehe Beiträge 9 und 10.
Beispiel USA
Je freier der Markt und je weniger „Hemmnisse“ durch Gesetze, die den Unternehmen soziale oder ökologische Rücksichtnahme abverlangen, desto wettbewerbsfähiger ist der jeweilige „Wirtschaftsstandort“. Diese Freiheit, diese Ungebundenheit des Marktes an gesellschaftliche Verantwortung ist der Grund für die im Wirtschaftsteil unserer Leitmedien stets bewunderte „Wirtschaftsdynamik“ der USA, auf die sich die Finanzmärkte verlassen können. Diese Dynamik hat einen Motor: die ständige Angst sehr vieler Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz. Sie können nicht wie die Europäer mit einem Sozialsystem rechnen, das sie vor dem totalen Absturz bewahrt und ihnen eine neue Chance bietet.
Die drohende Existenznot motiviert die meisten US-Bürger dazu, alles aus sich herauszuholen bis zur Überforderung ihrer Kräfte, um nicht zu versagen. Da es bei ihnen nicht so etwas wie Hartz IV (die Garantie des Existenzminimums) gibt, nehmen gering qualifizierte Arbeitnehmer auch Jobs für Hungerlöhne an, um am Leben zu bleiben (working poor). Und die Angehörigen der Mittelschicht wollen nicht in den sozialen Abstieg getrieben werden in einem Land, in dem das Ansehen eines Menschen in erster Linie an seinem wirtschaftlichen Erfolg gemessen wird. Sie wollen nicht zu den Millionen „working poor“ gehören, denen nachgesagt wird, sie seien doch selbst ihres Glückes Schmied und hätten sich nur mehr anstrengen müssen, um aus ihrer Not herauszukommen: trotz Arbeit zu wenig Verdienst, um sich eine Wohnung leisten zu können, Hunger, Kälte, kaum krankenversichert, verachtet, von der Polizei drangsaliert.
Aber das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Vereinigten Staaten wächst – auch dann, wenn die Armen noch ärmer werden und wenige Superreicher ihren Reichtum mehren, wenn also die ohnehin große Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern des freien Marktes immer tiefer und breiter wird (Zahlen dazu siehe Beitrag 9).
Zu den Marktgewinnern: in jeder Gesellschaft gibt es einen bestimmten Anteil der Bevölkerung, der den freien Markt uneingeschränkt befürwortet, weil er ihren Fähigkeiten und Interessen entgegenkommt. Es sind Menschen, die sich auf freien Märkten sehr gut durchsetzen können und erfolgreich sind, weil sie unternehmerisches Gespür und Durchsetzungsvermögen besitzen oder über Spezialwissen verfügen, das auf dem Arbeitsmarkt zugleich stark nachgefragt und knapp ist. Sie können sich selten in die Lage derer versetzen, die zu den Verlierern des freien Marktes gehören.
Diese Menschen mit hoher marktgängiger Leistungsfähigkeit sind nicht nur die Gewinner der marktradikalen Ausprägung des Kapitalismus, sondern auch die Mächtigen in diesem System. Sie kommen häufig aus begüterten Elternhäusern, die ihnen eine Spitzenausbildung ermöglicht haben. In den USA und Großbritannien können sich die Kinder der Reichen die besten Schulen und die sehr teuren Eliteuniversitäten leisten. Das verschafft ihnen auf dem Arbeitsmarkt einen erheblichen Wettbewerbsvorsprung vor den aus ärmeren Schichten stammenden Mitbewerbern. So besetzen sie die Spitzenpositionen in der Gesellschaft, vor allem in der Wirtschaft, in den Medien, in kulturellen Institutionen und in der Politik. Auf diese Weise kann sich eine mehr oder weniger „geschlossene Gesellschaft der Reichen“ bilden, die im eigenen Interesse den status quo stabilisiert. Sie verfügt über den erforderlichen politischen Einfluss und die nötigen finanziellen Mittel zur Erhaltung der bestehenden Verhältnisse.
Beispiele Frankreich und Deutschland
Frankreich, das sich in seiner Politik – anders als die USA – am Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ ausrichtet, befindet sich zurzeit unter starkem Druck. Seine Wirtschaft lahmt, weil es die soziale Sicherheit zu weit getrieben hat – „zu weit“ aus der Sicht der Befürworter der neoliberalen Globalisierung (man kann sie in der gegenwärtigen Situation auch Realisten nennen), die darauf verweisen, dass Frankreich im globalen Standortwettbewerb an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. Frankreich, das anders als Deutschland viele seiner Industrieunternehmen verloren hat, kann nicht genug exportieren und leidet daher an einem Außenhandelsdefizit. Aus rein ökonomischer Sicht sind also „Reformen“ – die Rücknahme sozialer Sicherheit – erforderlich, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Da sich jedoch bereits auf der extremen linken wie auf der extremen rechten Seite des politischen Spektrums starke Kräfte gebildet haben, die durch solche „Reformen“ noch mehr Zulauf bekämen, befindet sich der französische Präsident in einem Dilemma, um das ich ihn nicht beneide. Was er auch tut, er wird von links und rechts Prügel beziehen.
Angesichts dieses bösen Spiels – ob in den USA oder in Frankreich oder in anderen kapitalistischen („liberalen“) Demokratien – ist es nicht verwunderlich, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung in seiner marktradikalen Ausprägung weltweit nicht nur Freunde und Bewunderer hat. Die Kritiker des Kapitalismus müssen jedoch zugestehen, dass die ebenso radikale Alternative in Gestalt der Sowjetunion und der ehemaligen Ostblockstaaten mit ihrer Planwirtschaft historisch gescheitert ist: eine Wirtschaftsordnung ohne einen hinreichend freien Markt, ohne private Unternehmer und ohne abhängig Beschäftigte (Lohnarbeit).
Daher gehen die Staaten, die eine marktradikale (sozial ungebundene) Marktwirtschaft nach dem US-Modell ablehnen, einen Mittelweg zwischen völlig freiem und völlig ausgeschaltetem Markt. Solche Alternativen reichen von der Sozialen Marktwirtschaft europäischer Prägung über halbautoritär regierte Demokratien wie Russland bis hin zu Ein-Parteien-Diktaturen wie China mit politisch relativ stark regulierten Märkten.
Deutschland und Frankreich wie auch andere europäische Staaten haben sich für die Soziale Marktwirtschaft entschieden – mit unterschiedlichem wirtschaftlichem Erfolg in den vergangenen dreißig Jahren. Denn seit die fortschreitende neoliberale Globalisierung mit ihren geöffneten (nicht mehr politisch gesteuerten, durch Zölle und Kontingente geschützten) Märkten über den globalen Standortwettbewerb die Unternehmer und Arbeitnehmer gleichermaßen in einen wahnsinnigen Konkurrenzkampf jeder gegen jeden hetzt, müssen immer mehr soziale Errungenschaften der globalen Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden. Das lässt sich nicht nur in Frankreich, sondern vor allem auch in den südeuropäischen Staaten beobachten.
Bekanntlich stößt der legitime Anspruch eines Menschen auf Freiheit dort an seine Grenzen, wo mit ihm die Freiheit anderer Menschen eingeschränkt wird. Wie bereits angedeutet, gibt es Gesellschaften, in denen die politische Elite die Freiheit des Marktes ablehnen. Sie können diese Ablehnung mit dem Interesse der Bevölkerungsmehrheit an einer weniger stressigen und weniger riskanten Lebensweise begründen. Sie legen großen Wert auf soziale Sicherheit und auf das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft. Ich denke hier an Staaten mit hohen Ansprüchen an den sozialen Schutz ihrer Bevölkerung.
Manche Staaten mit hohem Anspruch an den sozialen Ausgleich werden als „halbautoritär“ regierte (oder „gelenkte“) Demokratien bezeichnet. Ihre Regierungen haben die große Mehrheit hinter sich – wie etwa Russland und Ungarn – verletzen jedoch das Menschenrecht der Pressefreiheit. Sie tun dies in der Absicht, ihre Bevölkerung vor dem Einfluss solcher Kräfte zu schützen, die den freien Markt einführen wollen und dafür politische Macht anstreben. Es geht also um einen Machtkampf innerhalb der Elite des Landes. Die sozial verantwortlichen Teile der Elite wollen den potenziellen „Marktgewinnern“, die als Opposition die bestehende politisch gelenkte Wirtschaft „befreien“ wollen, daran hindern, die wenig informierten Bürger mit Wohlstandsversprechungen zu verführen.
Ein solcher Machtkampf hat sich in Deutschland nach der Wiedervereinigung innerhalb der politischen Elite eher im Hintergrund abgespielt. Große Teile der Menschen, die 1989 gegen die sozialistischen Machthaber der DDR demonstrierten, strebten nicht den Kapitalismus an, sondern einen demokratischen Sozialismus – also einen Staat ohne Stasi und ohne die Allmacht der Partei. Sie wollten einen Staat, der sozialen Sicherheit mit Marktwirtschaft verbindet, so dass Wohlstand für alle ohne eine unerträgliche Kluft zwischen Arm und Reich geschaffen werden kann. Andere Teile der Opposition wollten einfach das westdeutsche Modell des Wirtschaftens übernehmen. Letztere sind von den Parteien des westlichen Deutschland im Wahlkampf unterstützt worden, haben sich integriert und politisch durchgesetzt.
Beispiel Russland (Jelzin, Putin)
Ein anderes Beispiel ist Russland nach der von Gorbatschow eingeleiteten friedlichen Revolution. Die in der Sowjetunion herrschende Macht der sozialistischen Einheitspartei wurde gebrochen. Ein frei gewähltes Parlament (die Duma) bildete sich und setzte eine Regierung ein, die die Mehrheitsverhältnisse widerspiegelte.
Jelzin, der Gorbatschow ablöste, wollte die bisherige Planwirtschaft möglichst schnell in eine Marktwirtschaft überführen. Die Auflösung der Planwirtschaft führte zu chaotischen Wirtschaftsverhältnissen. Jelzin war der Mann des westlichen Vertrauens. Er sollte Ordnung schaffen und gleichzeitig eine freie Marktwirtschaft nach US-Vorbild aufbauen.
Jelzin privatisierte die großen Staatsbetriebe und deregulierte die gesamte Wirtschaft. Zum Beispiel wurden die Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft. Die Autorität des Staates war stark geschwächt. In dem entstandenen Vakuum breiteten sich Verbrechen und eine Wirtschafts-Mafia aus. Aus diesem Chaos entwickelte sich in relativ kurzer Zeit eine reiche Oberschicht mit den sogenannten „Oligarchen“, die mit viel Geschick und teilweise illegalen Machenschaften große Konzerne schufen. Die reichen „Oligarchen“ wurden immer mächtiger im Staat. Einige begannen, Förderquellen der für Russland existenziell wichtigen Rohstoffe Öl und Erdgas an westliche Konzerne zu verkaufen. Das Chaos für den „kleinen Mann“ verschärfte sich.
Medien berichteten über kriminelle Gruppen, die mit Schutzgelderpressung zu Macht und Reichtum kamen und jede Rechtssicherheit aushebelten. Die marktwirtschaftliche Radikalkur hat nicht nur das kommerzielle und öffentliche Leben unsicher gemacht, sondern auch große Kreise der Bevölkerung in materielle Not getrieben. Wirtschaftliche Existenzangst ergriff Millionen Menschen, die bisher in festen Arbeitsverhältnissen gelebt hatten und nun ohne soziale Absicherung arbeitslos gewordenen waren. In einer Zeitschrift las ich damals: „Was ist los in einem Land, wo Bergleute für Lohn, den sie monatelang nicht erhalten haben, in einen Hungerstreik treten, aus dem andererseits eine elitäre Schickeria mit Koffern voller Dollarscheine nach Nizza oder Zypern reist und zweistellige Prozentsätze des russischen Bruttoinlandsprodukts verjuxt?“
Diese Zustände erinnern mich an die Zeit der Weimarer Republik vor der Machtergreifung Hitlers mit ihrer Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Auftritt einer reichen Oberschicht, die insbesondere im damaligen Berlin mit großem medialem Echo die „goldenen zwanziger Jahre“ feierte.
Die russische Wirtschaft brach unter Jelzin in den Jahren 1998 und 1999 zusammen. Als Putin im Jahr 2000 zum Ministerpräsident gewählt wurde, kam es ihm darauf an, das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zurückzugewinnen. Dabei legte er besonderes Gewicht auf die soziale Sicherheit.
Die erfahrene Fernsehjournalistin Gabriele Krone-Schmalz, die bei der ARD arbeitete, schreibt in ihrem Buch „Russland verstehen“ (2015): „Im russischen Haushalt von 2002 standen zum ersten Mal die Sozialausgaben an erster Stelle. Für Ausbildung wurde nachweislich mehr ausgegeben als für die Landesverteidigung. Die Lage der Rentner wurde zur Chefsache, ebenso die pünktliche Auszahlung von Löhnen und Gehältern. Langsam aber spürbar normalisierte sich das Leben in Russland.“
Drei Zitate zu Putin aus Wikipedia (16.2.2015):
„Es gelang Putin, die eigenständige politische Macht einiger zuvor sehr einflussreicher Unternehmer („Oligarchen“) zu brechen. Diese Aktionen, ein zeitweiser wirtschaftlicher Aufschwung, seine Außenpolitik und seine Linie in der Terrorismusbekämpfung sorgten für eine schwankende, aber im Durchschnitt große Popularität bei der Bevölkerung Russlands. Eine wichtige Rolle spielte dabei die positive Darstellung seiner Politik in den staatlichen und staatsnahen Medien.“…
„Im Wahlkampf hatten die Oligarchen sich nach Putins Überzeugung durch finanzielle Unterstützung und Zulassen pro-westlicher regimekritischer Beiträge in ihnen gehörenden Medien unangemessen in die russische Politik eingemischt.“ So etwas wurde gegen das Medienkonglomerat Media-MOST des Oligarchen Gussinski wegen Betrugs ermittelt. Der Oligarch ging darauf hin nach Spanien ins Exil. Auch Beresowski, dem der Fernsehsender ORT gehörte und gegen den ein Untersuchungsverfahren eingeleitet wurde, flüchtete aus Russland. ORT geriet unter staatliche Kontrolle.
…„Bei der Präsidentschaftswahl am 14. März 2004 gewann Putin mit 71 Prozent der Stimmen und ging so in eine zweite Amtszeit. Beobachter konnten keinerlei Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf feststellen, kritisierten jedoch die starke Chancenungleichheit der Kandidaten infolge der vielfach staatlich kontrollierten Medien, die im Vorfeld für Putin geworben hatten.“
Ich fasse die Aussagen zu Putin zusammen:
1. Putin hat eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.
2. Er hat im Interesse seines Landes das durch die freie Marktwirtschaft hervorgerufene Chaos überwunden und Ordnung geschaffen.
3. Er hat die Vorrangstellung der Politik gegenüber der Wirtschaft erreicht.
4. Er hat die wertvollen Ressourcen des eigenen Landes vor dem Zugriff ausländischer Konzerne bewahrt und sie unter staatliche Kontrolle gestellt.
5. Er hat für die arme Bevölkerung soziale Sicherheit und einen bescheidenen Wohlstand erreicht.
6. Er hat die Pressefreiheit eingeschränkt.
Putin wird in den westlichen Medien überwiegend als böser Diktator mit nationalistischen (seit dem Ukrainekonflikt auch expansionistischen) Bestrebungen hingestellt. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass Putin nicht viel von Pressefreiheit hält und sich die Medien daher in ihrem ureigenen Betätigungsfeld angegriffen fühlen.
Schlussbemerkung
Die oben aufgeführten Menschenrechte lassen erkennen, dass der „freie Westen“ den Mund zu voll nimmt, wenn er sich hinsichtlich ihrer Einhaltung im Vergleich zu anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen überlegen düngt. Das ist er definitiv nicht. Seine Eliten setzen nur andere Schwerpunkte bei der Sorge um das Wohlergehen der Bevölkerung als die Eliten der anderen („gelenkten“) Demokratien. Letztere haben erkannt, dass Medien in privater Hand einen ernst zu nehmenden Machtfaktor darstellen. Die sehr mächtigen Inhaber der Medien wollen meist eine Marktwirtschaft, die so „frei“ ist, dass sich die Politiker dem Primat der Wirtschaft „freiwillig“ unterordnen und die soziale Sicherheit als Nebensache betrachten.
Niemand wird bestreiten wollen, dass in den kapitalistisch orientierten Demokratien den Eigentümern von privaten Medienimperien eine übergroße Macht zufällt (siehe Beitrag 13). Das hat in Italien unter Berlusconi besondere Blüten hervorgebracht, lässt sich jedoch auch in England und den USA beobachten. In Deutschland ist diese Macht aufgrund der öffentlich-rechtlichen Medien auf ein vernünftiges Maß gestutzt.
Die Frage, ob in den westlichen Demokratien von einem Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft gesprochen werden kann, ist auch in den kapitalistischen Ländern umstritten – insbesondere im Blick auf die Macht der Finanzmärkte.
Wenn die westlichen Medien über Demonstrationen in mehr oder weniger gelenkten Demokratien jubeln, verkennen sie gelegentlich den sozialen und ökonomischen Hintergrund des Protests. Handelte es sich bei den Demonstranten auf dem Roten Platz in Moskau oder auf dem Maidan in Kiew vielleicht vorwiegend um Menschen, die sich anders als die Mehrheit einen völlig freien Markt wünschen, weil sie sich mit ihrer marktgängigen Leistungsfähigkeit gute Chancen versprachen, auf der sonnigen Seite der großen Kluft zwischen Arm und Reich anzukommen?
Die Menschenrechte sind zwar universell gültig und wir können uns freuen, wenn bei uns in Deutschland die Meinungs- und Pressefreiheit gut funktioniert. Wir sollten jedoch respektieren, dass in anderen Ländern hinsichtlich der Menschenrechte andere Prioritäten gesetzt werden, weil die dort tonangebenden Eliten das Wohl der Bevölkerungsmehrheit auf anderem Wege anstreben (siehe Beitrag 7).
Im westlichen Europa war der Weg von dem demokratischen Ideal, wie es in der Französischen Revolution verkündet wurde, bis zu einer Demokratie mit uneingeschränkter Pressefreiheit sehr lang.
Länder wie Russland brauchen auch Zeit dafür. Zu wünschen ist, dass sie sich am deutschen Beispiel orientieren und die Medien nicht allein der Privatwirtschaft überlassen, sondern einem Teil ihrer Medien einen öffentlich-rechtlichen Status geben. Denn die Meinungsbildung in einer Demokratie wird verfälscht, wenn die Medien allein auf gute Einschaltquoten setzen und vorrangig wirtschaftlichen Interessen dienen. Ein Teil der Medien (wie auch der Kultur insgesamt) muss unabhängig von Marktgesetzen organisiert sein, damit eine qualitativ anspruchsvolle Berichterstattung und Kommentierung möglich ist. (siehe dazu der Beitrag 13 über die Macht der Medien)
Eine Demokratie in Zeiten allgemeinen Wohlstands hat ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden. Erst in Notzeiten wird sich zeigen, welche große Bedeutung der sozialen Frage und einer einigermaßen gerechten Verteilung des Wohlstands zukommt. Wird diese Bedeutung verkannt, wird die von Existenzängsten gequälte Bevölkerung Zuflucht bei einer starken Führungspersönlichkeit suchen, die die leichtgläubige Bevölkerung mit Sündenböcken zum Narren hält und die Lage nur noch verschlimmert. zum Inhaltsverzeichnis
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