Warum schätzen wir die Anonymität so sehr? Wir verstecken uns gern hinter einer Maske – nicht nur im Fasching, sondern (im übertragenen Sinn) auch in unserem Alltag. Ich denke, das hat viel mit unserer Verletzlichkeit zu tun. Wir sind nicht so selbstsicher, wie wir uns gern geben. Wir fürchten Kritik, weil wir – vielleicht völlig zu unrecht – dahinter eine Herabsetzung unserer Person vermuten.
Und diese Verletzlichkeit unterstellen wir auch bei anderen Menschen. Daher halten wir uns zum Beispiel im Kreise unserer Freunde und Bekannten gelegentlich mit unserer Meinung zurück, wenn wir fürchten, damit jemandem „auf die Füße zu treten“, den wir nicht verärgern wollen, weil uns an seiner guten Meinung über uns sehr viel liegt. Wir bleiben in Deckung.
Wenn wir im Internet einen Kommentar abgeben, dann wollen wir nicht, dass jeder die Spur zu unserer wahren Identität zurückverfolgen kann. Warum? Vielleicht, weil wir berufliche Nachteile befürchten. Man weiß ja nie, wie jemand reagiert, der die Dinge anders sieht als wir und von dessen Wohlwollen wir vielleicht mal abhängig sein werden.
Was die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung betrifft, leben wir in der westlichen Welt geradezu in einem Paradies, obwohl es auch bei uns Tabus gibt, an die niemand ungestraft rühren darf. Die anzurühren traue ich mich nicht einmal in meinem anonymen Blog. Seit Edward Snowden wissen wir ja, dass auch wir Anonymen im Internet nie vor dem Entdecken sicher sein können.
Ob in Russland, in China oder in der arabischen Welt: dort ist es für uns mit unseren westlichen Denkgewohnheiten und unserer Lust, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, ziemlich gefährlich. In abgeschwächter Weise ist es jedoch auch in unserer „freien Gesellschaft“ ein Wagnis, in der öffentlichen (veröffentlichten) Debatte Meinungen zu vertreten, die den unter Intellektuellen vorherrschenden Einstellungen und Überzeugungen zuwiderlaufen.
Manche Tabus dürfen bei uns nicht einmal als solche bezeichnet werden. Früher waren wir immer der Meinung, dass die Bezeichnung „Terrorist“ nur aus einer bestimmten Perspektive heraus eindeutig zu verstehen ist. Aus einer anderen als der bei uns herrschenden Perspektive gesehen ist der Terrorist ein Freiheitskämpfer oder ein ehrenwerter Kämpfer für eine bestimmte Überzeugung – so sieht er sich selbst und so wird er auch von den Mitglieder seiner politischen oder religiösen Gruppierung gesehen.
Der Sprengstoffattentäter, der sich als Schiit in einer sunnitischen Moschee inmitten der Gläubigen in die Luft sprengt, versteht sich als Märtyrer – genau so wie die christlichen Märtyrer, die im Kampf gegen die Heiden den Tod fanden und heute in der katholischen Kirche als Heilige verehrt werden.
Nun aber, da uns der islamistische Terror in unserem eigenen Land buchstäblich auf den Leib rückt – siehe die mörderischen Anschläge in Paris und Kopenhagen – bleiben uns verständnisvolle Worte zu den Kämpfern fundamentalistischer religiöser Gruppen im Halse stecken. Wir Kinder der Moderne fühlen uns von dem Terror vor unserer Haustür existenziell bedroht.
Wenn wir Angst haben müssen, uns kritisch zur islamistischen Fundamentalisten und ihren Märtyrern zu stellen – und sei es nur im Rahmen eines Karnevalzuges – dann sehen wir zu Recht rot und lehnen jedes Verständnis für die Motive derer ab, die uns mit dem Tode drohen, wenn wir uns nicht an ihre Regeln im Umgang mit Religion halten.
Unser Verstand sagt uns zwar, dass die Glaubenskämpfer, die sich im Irak und in Syrien grenzüberschreitend einen Islamischen Staat als Kalifat erobern wollen, ein Resultat des verbrecherischen Angriffskrieges der USA und ihrer europäischen Verbündeten auf den Irak sind (siehe Beitrag 17 zur Demokratie). Er sagt uns auch, dass wir uns nicht wundern sollten, wenn die im Irak von westlichen Streitkräften und nach deren Abzug von US-Marionetten mit Waffengewalt unterdrückten Sunniten ihren „Verteidigungskrieg“ nun auf die Länder ihrer Feinde ausdehnen. Aber dieser Stimme will unser Gefühl nicht folgen. Wenn wir persönlich betroffen sind, können wir nicht mehr neutral und ausgewogen urteilen.
In der Süddeutschen Zeitung vom 7./8. Februar 2015 wird von dem jordanischen Karikaturisten Osama Hajjaj berichtet, der zu den bekanntesten Zeichnern der arabischen Welt zählt. Er hat viel beachtete „Zeichnungen des Widerstands“ geschaffen. Aber er muss Angst haben, wenn er in seinen Werken die politische Wirklichkeit mit seinem Zeichenstift „aufspießt“.
Osama Hajjaj war 20 Jahr alt, als er (der heute 41 Jahre auf dem Buckel hat) zum ersten Mal wegen eines Witzes eingesperrt wurde, zusammen mit dem Chefredakteur der Wochenzeitung, die den Cartoon abgedruckt hatte. Im Gefängnis erlebte Hajjaj eine Überraschung: „Die übrigen Gefangenen hielten uns für Helden und hofften, dass wir, die Journalisten, draußen ihre Geschichte erzählen würden.“
Ich denke mir: Wir sind keine Helden. Einer der Vorteile unserer Demokratie besteht darin, dass sie – anders als frühere Gesellschaftsordnungen – nicht mehr nach Heroen verlangt. Es darf nicht sein, dass irgendeine Ideologie oder Religion oder eine dominante Auffassung uns in Angst versetzt. Keine Denk- oder Glaubensrichtung darf von uns verlangen können, dass wir sie nicht in Frage stellen. Kritik, auch beißende Kritik, auch Spott und Satire muss möglich sein. Und ob Spott und Kritik zu weit gegangen sind – also beleidigende Formen angenommen haben – das kann nur eine neutrale richterliche Instanz beurteilen und nicht die Vertreter der angegriffenen Denk- oder Glaubensrichtung.
Im relativ liberal regierten Jordanien schlägt die Justiz nur gelegentlich zu – und beruft sich dabei auf ein Pressegesetzt, das die „Verletzung arabisch-islamischer Werte“ verbietet. Was unter diese „Werte“ fällt, ist natürlich Auslegungssache. Das schüchtert ein und die Selbstzensur liegt nahe. Hajjaj sagt: „Man wird vorsichtig.“…„Ich bin froh, dass ich auf Facebook nie Fotos von meiner Familie gepostet habe.“
Die Witze und Zeichnungen von Hajjaj stehen in einer Tradition mit den Werken europäischer Satiriker, beginnend mit den in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten 2005 veröffentlichten Mohammedkarikaturen, die in der islamischen Welt große Wellen schlugen – und in Europa zu Todesdrohungen gegen den Karikaturisten führten. Auch schon der Schriftsteller Salman Rushdie musste sich vor religiösen Fanatikern verstecken, die seinen respektlos-kritischen Umgang mit ihrer Religion nicht dulden wollten. Aktuell ist es der skandinavische Künstler Lars Vilks, auf den in Kopenhagen ein Anschlag verübt wurde. Lars Vilks wird bereits seit Jahren bedroht, lebt seitdem unter Polizeischutz, wurde auch schon auf der Bühne angegriffen, sein Haus wurde angezündet. Auf seinen Kopf ist ein Preis ausgesetzt.
Und das alles in einem Europa, das sich seit der Epoche der Aufklärung von der Herrschaft der (christlichen) Kirchen befreit hat. Es geht bei den Anschlägen allerdings nicht um einen Kampf zwischen Aufklärung und fundamentalistischem Religionsverständnis, sondern um rein kriminelle Akte, denen nicht mit weltanschaulichen Argumenten, sondern mit Polizei zu begegnen ist – nicht anders als im Kampf gegen die Drogenmafia.
Die Zeiten, in denen in Europa Menschen mit dem Tod bestraft wurden, die der herrschenden christlichen Lehre widersprachen, sind glücklicherweise vorüber. Denn die christlichen Kirchen haben ihre Macht über Tod und Leben ihrer Gläubigen und ihrer Dissidenten verloren. Wir wissen nicht, wie sie sich heute aufführen würden, wenn ihnen diese Macht nicht genommen worden wäre.
Auch die staatlichen Machthaber haben sich inzwischen in den meisten Ländern der Welt einer Rechtsordnung untergeordnet, wenn diese Rechtsordnung meist auch recht dehnbar ist (Beitrag 17).
In der politisch aktiven Zivilgesellschaft (Beitrag 16) sind auf mehr oder weniger friedlichem Niveau noch heftige Auseinandersetzungen zwischen „rechten“ und „linken“ Gruppierungen an der Tagesordnung – und die Extreme schaukeln sich in der öffentlichen Wahrnehmung gegenseitig hoch. Wie weit kann hier Duldung gehen?
Wie wichtig der kritischen Zivilgesellschaft die im besten Sinn verstandene Toleranz ist, erweist sich in Situationen, in denen es um geäußerte Überzeugungen und Positionen geht, die den meisten von uns total gegen den Strich gehen – zum Beispiel im Umgang mit den Pegida-Demonstrationen in Dresden. So lange eine Gruppierung nicht verboten wurde, ihr also nicht nachzuweisen ist, dass sie den Boden unseres Grundgesetzes verlassen hat, so lange müssen ihre Meinungs- und Willensbekundungen ertragen werden. Wer solche Meinungsäußerungen mit Parolen verteufelt, der hat nicht verstanden, was die aufgeklärte Forderung nach Respekt gegenüber Menschen anderen Glaubens und anderer politischer Überzeugung bedeutet.
Pegida-Demonstranten und andere von „Linken“ als „Rechte“ eingestufte Gruppierungen dürfen zum Beispiel nicht von Gegendemonstranten am Weitergehen gehindert werden mit dem Argument: „Eure Meinung ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.
Ich meine die, die davon überzeugt sind, die Hüter der Demokratie zu sein nach dem Motto: „Wehret den Anfängen“ und sich dabei auf die zu weit gehende Toleranz in der Weimarer Republik gegen die aufkommende Nazibewegung berufen. Aber dieser Vergleich ist als Begründung unzulässig, weil er historisch so nicht stimmt. Wer willkürlich die Definitionsmacht über das beansprucht, was „rechtspopulistisch“ und „fremdenfeindlich“ ist, der unterdrückt Meinungsvielfalt und drückt sich vor unbequemen Diskussionen.
Es gibt Widerstandsformen gegen als „rechts“ oder „ausländerfeindlich“ empfundene Tendenzen in der öffentlichen Meinung, die mit unserer Demokratie vereinbar sind: zum Beispiel – wie gehabt – eigenständige Demonstrationszüge, die mit den teilnehmenden Menschenmengen öffentlich bekundete Meinungsäußerung zum Ausdruck bringen und zeigen, wo die „Mehrheit der Vernünftigen“ steht. zum Inhaltsverzeichnis
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