Ob Papst, Obama oder andere Würdenträger der westlichen Welt: alle beschwören die Universalität der Werte wie Demokratie und Pressefreiheit. Sie sollen für die ganze Welt gültig sein. Die Einhaltung dieser und der anderen Menschenrechte wird von der UNO eingefordert – allerdings gibt es in der Interpretation der Menschenrechte große Unterschiede (siehe dazu Dem.18). Für die Einhaltung dieser universell anerkannten Rechte gibt es ein machtpolitisch wirksames Instrument: die sog. „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect). Auf dem Gipfeltreffen 2005 der Vereinigten Nationen in New York wurde es allgemein anerkannt. Die Schutzverantwortung schafft das Recht auf militärisches Eingreifen „von außen“, um voraussehbare Gräueltaten in einem Staat verhindern zu können. Wo liegt das Problem?
Ich will mit einem Interview anfangen. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Anan sieht sich in der Tradition der Aufklärung. Er ist von der universellen Gültigkeit humaner Werte überzeugt und kann die Notwendigkeit ihrer Durchsetzung gut begründen. In einem Gespräch mit Stefan Kornelius (SZ vom 7./8. Febr. 2015) stellt er fest: „Der Krieg ist überall. Die Welt ist in einem fürchterlichen Zustand. Für viele Menschen fällt diese Welt auseinander…Die Systeme beschleunigen sich gegenseitig.“ Er weist auf die Brutalität und die übergeordnete Natur der gegenwärtigen Kriege und Bürgerkriege hin. Auf die Frage, warum die Staaten so plötzlich zerfallen, sagt er: „Wir leben in einer Welt, in der das Vertrauen ausgewaschen ist. Wir erleben eine Erosion von Vertrauen in Institutionen und Führungspersönlichkeiten, in Politiker aber auch in Wirtschaftsführer. Das hat mit der Finanzkrise 2008 zu tun und vor allem mit der Arbeitslosigkeit. Es gab mal so etwas wie einen Sozialvertrag. Arbeiter durften im Glauben leben, dass sie einen Job haben, solange es ihrer Firma gut geht. Heute verlieren die Firmen zwar kein Geld, aber die Menschen verlieren ihre Arbeit. Das verstehen sie nicht. Soziale Sicherheit ist das Fundament für den Frieden. Soziale Sicherheit aber schwindet, wenn die Kluft zwischen Armen und Reichen wächst.“
Kornelius fragt: „Wie also entschleunigt man die Welt?…Am Ende haben Sie es mit Demokraten oder autoritären Typen zu tun, Kapitalisten oder Sozialisten, Nationalisten oder Religionsfanatikern. Die sehen sich in einem Kampf untereinander, einem Wettbewerb der Ideologien. Gemeinsame Einsicht ist da fern.“
Darauf antwortet Kofi Anan: „Aber es gibt universelle Werte, Dinge, nach denen alle streben. Für diese Werte gibt es eine Mehrheit und eine Koalition der Vernunft. Immer mehr Menschen schauen etwa auf das nordische, das skandinavische Modell mit seiner demokratischen Teilhabe und seinem sozialen Charakter…. Eine gesunde und effektive Gesellschaft muss auf drei Säulen ruhen: Frieden und Sicherheit, Entwicklung für alle, Rechtsstaatlichkeit und dem Respekt für die Menschenrechte. Entwicklung ohne Frieden und Sicherheit gibt es nicht. Frieden und Sicherheit gibt es nicht ohne Entwicklung. Am Ende wird keine Nation gedeihen ohne Rechtsstaatlichkeit und den Respekt vor den Menschenrechten. Wir sollten nie diese dritte Säule vergessen.“
Die universelle Gültigkeit humaner Werte ist eine Idee, die auf den ersten Blick jeden gutwilligen Menschen überzeugt. Aber eben nur auf den ersten Blick, denn wir müssen fragen, was sich hinter dieser wunderschönen Idee vielleicht verbirgt.
Ich werde nun einige Überlegungen über die „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect) zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen anstellen. Im nächsten Beitrag werde ich auf den Anspruch einer universellen Gültigkeit anderer Werte wie Demokratie und Freiheit eingehen.
Die Einleitung von präventiven Maßnahmen bei schweren Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der „Schutzverantwortung“ bezieht sich laut Resulution 1674 des UN-Sicherheitsrats (ein völkerrechtlich verbindliches Dokument) auf Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen.
Theoretisch wird die Schutzverantwortung mit einer Neudefinition von staatlicher Souveränität begründet: Souveränität beinhaltet auch Verantwortung. Ein Staat gilt nach dieser neuen Theorie erst dann als souverän, wenn er Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung übernimmt. Die Idee der Schutzverantwortung richtet sich erstens gegen Diktaturen, wo Teile der Bevölkerung massakriert werden (Beispiel Massenerschießung in Srebrenica während des Jugoslawienkriegs) oder wo ein solches Massaker droht. Und zweitens zielt sie auf sogenannte zerfallende oder schon zerfallene Staaten (failed states) mit Bürgerkriegen und einer sehr schwachen Regierung, die nicht in der Lage oder bereit ist, ihre Bevölkerung vor wild gewordenen Banden und Milizen zu schützen (Beispiel Massaker an den Tutsi in Ruanda).
Die moralische Pflicht, durchgeknallte Diktatoren und Stammesführer an solchen und ähnlich schweren Menschenrechtsverletzungen zu hindern, ist wohl unumstritten. Das Problem liegt wo anders: in der Gefahr, dass mächtige Staaten eine erfundene Bedrohung als Vorwand benutzen, um einen schwächeren Staat militärisch anzugreifen und dabei andere Kriegsziele zu verfolgen.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg, den die US-Streitkräfte 2003 (zusammen mit der „Koalition der Willigen) gegen den Irak geführt haben mit der Begründung, die USA müsse einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen zuvorkommen, ist ein Beispiel für ein militärisches Eingreifen aus scheinbar gutem Grund. Als bekannt wurde, dass der von der USA-Regierung offiziell verkündete Angriffsgrund „Verhinderung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen“ den Tatsachen nicht entsprach – der Irak verfügte über keine solchen Waffen – wurde von Präsident Bush ein anderer Grund nachgeschoben: Einführung der Demokratie im Irak.
Die eigentlichen Motive des Überfalls auf den Irak waren wirtschaftliche und geopolitische Interessen der USA und ihrer Verbündeten. Die Erfahrung kann verallgemeinert werden: Da in Konfliktherden die Wahrheit als erstes auf der Strecke bleibt, ist – zumindest währen der Kampfhandlungen – den Medienberichten aus diesen Gebieten grundsätzlich zu misstrauen. Die von den Konfliktparteien verbreiteten Desinformationen für die „eingebetteten“ Medien führen ebenso in die Irre wie die tatsächlichen oder angeblichen Geheimdienstberichte.
Nachdem US-Präsident George W. Bush nach nur wenigen Wochen den angezettelten Krieg gewonnen und offiziell als beendet erklärt hatte, gingen die militärischen Auseinandersetzungen erst richtig los und erstreckten sich über Jahre. Nach Dokumenten des US-Verteidigungsministeriums (über WikiLeaks öffentlich bekannt gemacht) hat dieser verlogene Krieg zwischen 2004 und 2009 (also nach seiner offiziellen Beendigung) noch weitere 109.000 Tote gekostet, davon 66.081 Zivilisten. Hinzu kommen hunderttausende schwer Verletzte und die Zerstörung von Siedlungen, Infrastruktur und Kultur. Das politische Ergebnis dieses „Abenteuers“ ist eine völlig destabilisierte Region. Sunniten und Schiiten fallen übereinander her. Als eine der Folgen dieses verlogenen Krieges erleben wir nun den Aufbau eines „Islamischen Staates“ über die Grenzen Iraks und Syriens hinaus, der in dieser Region alle bisherigen Verstöße gegen die Menschenrechte in den Schatten stellt.
Auf ähnlich verlogene militärische Interventionen der USA (mit Verbündeten) gegen schwache Staaten wie z.B. Afghanistan und Libyen will ich hier nicht eingehen. Auch für diese militärischen Eingriffe waren ganz andere Motive ausschlaggebend als die offiziell verkündeten. Sie haben die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien stark lädiert.
Da ich keiner Großmacht über den Weg traue, wenn es um Kriegsziele geht, bei denen auch Wirtschaftsinteressen und machtstrategische Überlegungen im Spiele sind, zweifele ich am ehrlichen Umgang mit der „Schutzverantwortung“ – jedenfalls so lange, wie die völkerrechtlich erlaubten Maßnahmen nicht nur politische Intervention und wirtschaftliche Sanktionen umfassen, sondern auch militärisches Eingreifen.
Bevor die Legitimität eines militärischen Eingreifens über alle Zweifel erhaben ist, muss von unabhängigen Institutionen der Vereinigten Nationen die Notwendigkeit sorgfältig geprüft werden: sind im konkreten Fall erstens tatsächlich Menschenrechtsverletzungen geschehen oder zu befürchten, die als hinreichend schwerwiegend bewertet werden? Und sind zweitens wirklich alle eventuell Erfolg versprechenden friedlichen Mittel der Konfliktbereinigung ausgeschöpft worden, um den befürchteten schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenrechte zu verhindern?
Ein Beispiel sind die Maidan-Proteste in Kiew. Als die friedlich demonstrierenden Menschen aus dem Hinterhalt beschossen und viele von ihnen getötet wurden, reagierte die Weltöffentlichkeit mit Entsetzen. Der demokratische gewählte Präsident musste vor gewalttätigen Protestlern fliehen. Wer da geschossen hat, wurde nie aufgeklärt. Der Ukraine-Konflikt eskalierte. Die Bevölkerung der Ostukraine und der Krim reagierte deutlich anders als die Bevölkerung der Westukraine. Der Konflikt wurde nun mit Waffen ausgetragen (Reguläre Truppen gegen Separatisten). Die Westmächte und Russland mischten sich und mischen sich immer noch in den Bürgerkrieg ein – je nach Interessenlage.
Aber auch die Interessenlagen unter den Westmächten sind unterschiedlich. Der Altpolitiker Erhard Eppler, der für seinen kompetenten Einsatz für den Frieden bekannt ist, hat in der SZ vom 11.2.15 (Aussenansicht) auf den Unterschied zwischen den Zielen Deutschlands (Konfliktbeilegung) und denen der USA hingewiesen. Die USA haben durch den von ihr angeheizten Konflikt drei Ziele erreicht, die ihre Macht stärken: Die Nato funktioniert wieder, Russland ist isoliert, die russische Wirtschaft liegt in Scherben. Im Blick auf die gegenwärtigen Verhandlungen schreibt er: „Was die USA erreichen wollten, haben sie erreicht, und zwar durch den Konflikt, nicht durch seine Beilegung.“
Für den politisch interessierten Beobachter ist nicht erkennbar, welche der Konfliktparteien mehr im Recht ist. Die von beiden Seiten betriebene Desinformation macht ein unvoreingenommenes Urteil unmöglich. Die Gefahr besteht, dass sich durch bereits in Aussicht gestellte Waffenlieferungen der USA der militärische Zusammenstoß über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweitet. Allerdings halte ich diese Gefahr für gering.
Auch außerhalb militärischer Konflikte spielt die Frage eine große Rolle, ob es universell gültige Werte gibt, an deren Einhaltung sich die einzelnen Staaten messen lassen müssen. Ein Problem dabei ist die unterschiedliche Interpretation der Menschenrechte. Darauf werde ich im folgenden Beitrag eingehen. zum Inhaltsverzeichnis
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