Die Gruppen und Netzwerke der kritischen Zivilgesellschaft (BUND, Attac …) unterscheiden sich zwar per Definition von Parteien, sollten sich jedoch nicht als deren Gegner verstehen. Sie sind beide Teile der gesellschaftlichen Elite. Beide Ausprägungen des politischen Engagements nehmen Einfluss auf den Prozess der politischen Meinungsbildung. Ich will mich hier mit der Rolle und Funktion der zivilgesellschaftlichen Gruppen, die schon in mehreren Beiträgen angesprochen worden sind, etwas näher befassen.
Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, die innerhalb der gesellschaftlichen Elite ihren Einfluss im demokratischen Prozess des Aushandelns zur Geltung bringen und dabei das Wohl abgrenzbarer gesellschaftlicher Gruppen im Auge haben (wie Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und Kirchen) vertreten die Gruppen der Zivilgesellschaft nicht Partialinteressen (z.B. der Lohnempfänger, der Unternehmer oder der Gläubigen), sondern Anliegen, die sich auf das Wohl der gesamten Gesellschaft beziehen. Dabei können sie sich auf eingegrenzte Themenfelder wie Umwelt, Gesundheit, Wirtschaft, Mobilität, Stadtentwicklung und andere Themen von allgemeinem Interesse beziehen.
Ihre Interessen haben also einen altruistischen, auf das Ganze ausgerichteten Charakter. Sie richten sich auf Eigenschaften einer Gesellschaft, in dem Mensch gern lebt – unabhängig davon, wie wohlhabend er ist. Es geht um die Voraussetzung eines Lebens aller in Würde.
Solche gesamtgesellschaftlichen Interessen sind insbesondere
• soziale Gerechtigkeit: faire Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, Überwindung einer übermäßig großen Kluft zwischen Arm und Reich.
• Vollbeschäftigung: Arbeit für alle bei hinreichendem Einkommen zur Sicherung der Freiheit, die von materiellen Voraussetzungen abhängt.
• Nachhaltigkeit des Wirtschaftens und des Verbrauchs: Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, Schonung der nicht erneuerbaren Ressourcen, Kampf gegen den Klimawandel, Schutz der Umweltgüter, Nutzung erneuerbarer Energiequellen…
• Frieden: Vermeidung von Kriegen zwischen Staaten und von Bürgerkriegen, Förderung friedlicher Formen des Austragens von Konflikten.
• Achtung der Menschenrechte: zum Beispiel Schutz von Minderheiten, Respekt von dem Fremden, Hilfe für in Not geratene Menschen.
Zu all diesen Anliegen/ Zielen gibt es Gruppen, die sich im Zusammenhang mit thematischen Schwerpunkten auf die eine oder andere Weise dafür einsetzen. Ihre Größe ist sehr unterschiedlich. Je größer die Zahl der Mitglieder, desto größer das politische Gewicht ihrer Interventionen. Aber die Größe ist nicht alles. Es kommt auch auf die Überzeugungskraft der Argumente an.
Mit Kampagnen, Demonstrationen, Petitionen, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, Unterschriftensammlungen und anderen Aktionen versuchen die zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung auf eine bestimmte Problematik zu lenken, die aus ihrer Sicht von der Politik zu lösen ist. Die Gruppen werben dabei um Zustimmung zur eigenen Position bei möglichst vielen Bürgern.
Je größer die Zustimmung in der Bevölkerung für die Sichtweise einer Gruppe, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die vorgebrachten Argumente innerhalb der politischen Elite wahrgenommen werden. Denn nur innerhalb dieser Elite findet die eigentliche Auseinandersetzung über die zur Diskussion stehenden Fragen und alternativen Handlungsmöglichkeiten statt (siehe die Beiträge 7 und 14).
Ich halte es daher für einen Irrtum, wenn von altruistischen Zielen motivierte Gruppen meinen, mit ihren Aktionen würden sie „die Mehrheit der Gesellschaft“ vertreten – wie in einer fiktiven „direkten Demokratie“, in der nur „gute Menschen“ (ohne böse Hintergedanken oder unrealistische Träumereien) miteinander verhandeln. Da unterliegen sie einer Selbstüberschätzung. Denn allein die Tatsache, dass ihr Anliegen im Interesse aller Menschen liegt, sagt noch nichts darüber aus, ob sich ihre speziellen Forderungen (und entsprechenden Argumente) in der Auseinandersetzung mit anderen (eher auf partielle Interessen ausgerichteten) Gruppen durchsetzen. Sie können auch untergehen – und tun es sehr häufig. Demokratie ist keine Garantie für die vernünftigsten und moralisch besten Lösungen.
In der Demokratie spiegelt sich vielmehr wider, welcher Grad an Vernunft und welches moralische Niveau die politische Elite insgesamt charakterisiert (die politische Elite wiederum spiegelt die in der Gesellschaft herrschende Verfasstheit von Vernunft und Moral wider). Nur wenn Vernunft und Moral in der Elite einen hohen Stellenwert besitzen, werden sich die Interessen des Gemeinwohls durchsetzen gegenüber Partialinteressen, die sich beim Verfolgen ihrer Ziele zu Unrecht auf das Gemeinwohl berufen. Für Vernunft und Moral gibt es keinen objektiven Maßstab. Auch das Gemeinwohl lässt sich nicht objektiv bestimmen. Daher ist die offen geführte Debatte so wichtig.
Die Demokratie geht von einem optimistischen Menschenbild aus. Der überzeugte Demokrat glaubt an die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft und an die grundsätzliche Bereitschaft der meisten Menschen, sich moralisch korrekt zu verhalten. Er weiß jedoch auch, dass Vernunft und Moral durch den starken Drang zu eigennützigem Verhalten überlagert und geschwächt werden. Gute Motive finden in der Öffentlichkeit zwar leicht Zustimmung, jedoch zeigt die Erfahrung, dass Menschen ihre wahren Motive nicht gern offen aussprechen, wenn sie eigennützig sind.
Es ist davon auszugehen, dass gut begründete Argumente ihre Überzeugungskraft nur dann voll entfalten, wenn sie öffentlich zu Diskussion gestellt werden. Schlecht begründete Argumente, die zum Beispiel von mächtigen Interessengruppen vorgetragen werden, wirken dagegen am besten hinter verschlossenen Türen. Diese Erfahrung spricht für die große Bedeutung von Transparenz in der politischen Debatte. zum Inhaltsverzeichnis
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