Wir Menschen neigen zum Schlechten. Das weiß jeder, der einen Funken von Selbsterkenntnis in sich hat. Untugenden aller Art von der Gier bis zum Geiz, von der Maßlosigkeit bis zur Verlogenheit, von der Rücksichtslosigkeit und Ellenbogenmentalität bis zum bedenkenlosen Kränken und Verletzen der Mitmenschen – wir kennen diese Neigungen und wir freuen uns, wenn wir ihnen nicht begegnen und stattdessen gegenteilige Eigenschaften und Verhaltensweisen beobachten und erleben.
Zurzeit läuft das (über Monate bereits ausverkaufte) Theaterstück „Ekzem Homo“ mit Gerhard Polt und den Gebrüdern Well (Biermösl Blosn) in München. Es geht um die Streitereien in der Nachbarschaft. Dazu sagt Polt in einem SZ-Interview: „Ja, das war für mich das Verrückte an der Nachbarschaft, dass in diesem Land ein Bürgerkrieg herrscht. Es ist unvorstellbar, wie viele Leute miteinander in Fehde liegen…Man kann nicht verstehen, warum Menschen sozusagen zu Bestien werden aus Anlässen, die keine sind. Das Erschreckende ist, dass man nie weiß, zu was der Mensch fähig ist.“
Außer den Nachbarschaftsstreitigkeiten gibt es viele andere Schauplätze (innerhalb der eigenen Familie, im Berufsleben und bei der Ausübung von Freizeit), wo der Mensch dem Menschen ein Wolf oder der „Mensch dem Menschen ein Mensch“ (Polt) sein kann – und das hängt von den menschlichen Eigenschaften (Tugenden und Untugenden) ab.
Was ist überhaupt „Selbsterkenntnis“? Ich meine, jeder von uns ist ein buntes Bündel aus Eigenschaften, Neigungen, Abneigungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Einsichten, Zweifeln, Verhaltensweisen. Das zusammen ergibt ein mehr oder weniger deutlich erkennbares Profil, das von innen her meist anders wahrgenommen wird als von außen und sehr danach variiert, wie genau hingesehen wird. Wenn wir uns verändern wollen: wie halten wir es mit unserer Selbsterziehung?
Nach dem „Big-Five-Modell“ der Psychologie (laut Wikipedia) wird der Charakter eines Menschen (sein Persönlichkeitstyp) danach beschrieben, wie bei ihm folgende fünf Eigenschaften ausgeprägt sind: Negative Emotionalität (emotionale Labilität: besorgt, reizbar, launenhaft, pessimistisch, befangen, unbeherrscht, verletzlich), Extroversion (nach außen gewandte Haltung: gesprächig, bestimmt, aktiv, energisch, dominant, enthusiastisch, abenteuerlich), Verträglichkeit (mitfühlend, warm, hilfsbereit, nett, vertrauensvoll, kooperativ, nachsichtig), Gewissenhaftigkeit (kompetent, ordnungsliebend, pflichtbewusst, zielstrebig, leistungsbereit, selbstdiszipliniert, besonnen) und Offenheit für Erfahrungen (einfallsreich, phantasievoll, originell, erfinderisch, neugierig, offen für neue Ideen, Interessiert an Ästhetischem wie Kunst und Musik, mit Vorliebe für Abwechslung, aufmerksam für eigene und fremde Emotionen).
Die Ergebnisse der Einstufung einer Person nach diesem Modell (wie stark treffen die Eigenschaften bei Person X zu?) bedeuten lediglich, dass der Betreffende in bestimmten Situationen dazu neigt, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen (Verhaltenstendenz). Jede der fünf „großen“ Eigenschaften ist sehr grob gestrickt. Jeweils mehrere Eigenschaften sind zu einer Charaktereigenschaft (als Persönlichkeitsmerkmal) zusammengefasst. Die einzelnen Eigenschaften (Tugenden) werden dabei sehr undeutlich.
Wie viel unseres „Charakters“ als Summe unserer Tugenden und Untugenden ist im Laufe des Lebens veränderbar? Laut Wikipedia lassen sich („nach neueren Zwillingsstudien“) bis zu zwei Drittel der messbaren Persönlichkeitsmerkmale auf genetische Einflüsse zurückführen, sind also angeboren und lassen sich nicht zum Besseren entwickeln. Ich vermute allerdings – auch wenn ich damit dem zitierten Forschungsergebnis widerspreche – dass mehr als neunzig Prozent unserer Art und Weise, wie wir miteinander umgehen (ob also bestimmte Tugenden und Untugenden mehr oder weniger entfaltet sind) davon abhängt, wie wir von unseren Mitmenschen beeinflusst worden sind, vor allem in unserer Kindheit und Jugendzeit. Wir ahmen nach, passen uns an, folgen dem, was wir für „normal“ halten – auch als Erwachsene. Nur einige Eigenschaften wie zum Beispiel kreative/ reproduktive Neigungen oder extrovertiertes/ introvertiertes Auftreten oder Eigenschaften, die mit einem eher impulsiven oder eher ruhigen Temperament zusammenhängen, scheinen mir stärker von Erbfaktoren beeinflusst zu sein.
Die ursprüngliche Bedeutung von „Tugend“ ist (laut Wikipedia) die Tauglichkeit (Tüchtigkeit, Vorzüglichkeit) einer Person. „Allgemein versteht man unter Tugend eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Im weitesten Sinn kann jede Fähigkeit, als wertvoll betrachtete Leistungen zu vollbringen, als Tugend bezeichnet werden. In der Ethik bezeichnet der Begriff eine als wichtig und erstrebenswert geltende Eigenschaft, die eine Person befähigt, das sittlich Gute zu verwirklichen. Damit verbindet sich gewöhnlich die Auffassung, dass dieser Eigenschaft und der Person, die über sie verfügt, Lob und Bewunderung gebührt.“
Ich habe mal einige (positive) Tugenden zusammengestellt. Jeder von uns kann (wenn er Lust dazu hat) darüber reflektieren, in welchem Maße er welche Tugend in welchen Situationen praktiziert.
Eigenschaften, die wir mehr oder weniger schätzen und uns mehr oder weniger zuschreiben:
Bescheidenheit
Wer diese Eigenschaft besitzt, kennt seine Grenzen und nimmt sie an. Ihm ist bewusst: was er weiß, kann und hat, verdankt er in sehr hohem Maße nicht sich selbst, sondern anderen Menschen bzw. der Gesellschaft. Stolz im Sinne von Selbstüberschätzung und Überheblichkeit liegen ihm daher fern. Die Haltung der Bescheidenheit geht davon aus, dass der Einzelne von anderen Menschen nichts zu fordern hat. Wenn er von ihnen etwas erhält, ist er ihnen dankbar dafür. Bescheidenheit hat nichts zu tun mit mangelndem Selbstbewusstsein oder mit Konfliktscheu.
Gefahr liegt in der Übertreibung: wer zu bescheiden ist, der fällt anderen Menschen leicht auf die Nerven. Es ist durchaus sympathisch, wenn jemand auch mal auftrumpft und auf einer Forderung besteht.
Großzügigkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, gibt gern ab, nicht nur an Hilfsbedürftige. Er freut sich darüber, dass er keinen Mangel leiden muss. Er klammert sich nicht an seinen Besitzt, sondern fühlt sich relativ frei davon und kann deshalb leicht loslassen. Geiz und Habgier liegen ihm fern.
Gefahr liegt in der Übertreibung oder in einem falschen Motiv: Wer zu viel abgibt, wird zum Habenichts. Wer abgibt, nur um zu gefallen, der ist nicht großzügig, sondern will die Gunst seiner Mitmenschen erkaufen.
Geduld
Wer diese Eigenschaft besitzt, wartet unaufgeregt ab, wenn die gewünschten Ergebnisse länger auf sich warten lassen als gedacht und erhofft. Der Geduldige übt mit sich und anderen Nachsicht, weil er mit Schwächen und Fehlern ohne (Selbst-) Zorn umgehen kann. Die Haltung der Geduld geht davon aus, dass die Wirklichkeit sich nicht beherrschen lässt, dass Unvorhergesehenes normal ist und Fehler ganz selbstverständlich vorkommen.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Ein Zuviel an Geduld und Nachsicht kann dazu führen, dass nichts mehr vorangeht.
Mäßigung
Wer diese Eigenschaft besitzt, meidet Übertreibungen und Extreme, sei es bei sinnlichen Genüssen, sei es bei der Wortwahl, sei es beim Anstreben von persönlichen Zielen und im sozialen Verhalten ganz allgemein. Er schießt nicht übers Ziel hinaus, lässt sich nicht mitreißen von überhitzten Gefühlen und Wünschen, weil er die negativen Folgen voraussieht und seine Wünsche bzw. Verhaltensweisen rechtzeitig zügeln kann. Die Haltung der Mäßigung (des Maßhaltens) hat nichts mit Mittelmaß zu tun, sondern mit kluger Voraussicht und mit Skepsis gegenüber dem falschen Glanz des Extremen. Mäßigung kann nicht übertrieben werden.
Wohlwollen/ Güte
Wer diese Eigenschaft besitzt, sieht seine Mitmenschen grundsätzlich in einem positiven Licht. Er unterstützt sie wo er kann und freut sich, wenn es ihnen gut geht. Er kennt keinen Neid. Hinter dem Wohlwollen steht eine Haltung der Lebensbejahung, die das eigene Leben als Teil eines sinnvollen Ganzen begreift. Die Hinwendung zum anderen Menschen – ob in Worten oder in konkreter Hilfe – wird von den Mitmenschen in aller Regel mit gleicher Haltung beantwortet. Die Rücksicht und Hilfsbereitschaft des Wohlwollenden ist ohne Hintergedanken („ich bekomme irgendwann etwas zurück, wenn ich selbst mal Hilfe brauche“). Sie speist sich aus der Freude und der Dankbarkeit, die von der Hilfe ausgelöst wird.
Gefahr liegt in der Übertreibung: wer nur die positiven Seiten von Menschen und nicht auch die negativen Seiten sieht und das Gute in ihnen verabsolutiert, der lässt sich in seiner Gutgläubigkeit leicht ausnutzen oder gar reinlegen.
Aufrichtigkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, ist offen und ohne Falsch. Er wird als glaubwürdig wahrgenommen. Ihm wird Vertrauen entgegengebracht – Basis eines funktionierenden Miteinanders. Wenn er etwas sagt oder tut, dann vermutet bei ihm niemand ein problematisches Motiv dahinter. Vereinbar mit dieser Haltung ist das Zurückhalten von Wahrheiten aus Gründen der gebotener Höflichkeit und Rücksicht. Wer Aufrichtigkeit im privaten Umgang verletzt, muss damit rechnen, dass sein Verhalten relativ bald erkennbar wird und sich seine Freunde von ihm zurückziehen. Im geschäftlichen Bereich kann dagegen Unehrlichkeit Vorteile bringen, wenn sie sich innerhalb des Üblichen und des gesetzlichen Rahmens bewegt. Sie ist hier daher selten in Reinform anzutreffen.
Im Geschäftsbereich kann eine strikte Aufrichtigkeit zur Gefahr werden, zum Beispiel dann, wenn auf illusionäre Werbung verzichtet wird, obwohl der Kunde sich von ihr verführen lässt und der Wettbewerber sie einsetzt.
Mut
Wer diese Eigenschaft besitzt, vertraut auf seine Kraft, sein Geschick und sein Glück. Er verfolgt seine Ziele, ohne sich von denkbaren Hindernissen und Gefahren davon abbringen zu lassen. Mut hat mit Zukunftsvertrauen zu tun. Diese Haltung zeigt sich in alltäglichen Situationen – beim Umgang mit schwierigen Menschen, bei der Planung von einschneidenden Veränderungen. Der Mut bei der Lebensgestaltung ist zu unterscheiden vom Mut, der bei risikoreichen Unternehmungen (z.B. im Sport oder bei Investitionsentscheidungen) gefragt ist und eng mit Vorsicht verknüpft ist: die Gefahr wird nüchtern abgeschätzt und mit geeigneten Mitteln bewältigt – anders als bei waghalsigen Unternehmungen, bei denen Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt werden.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Wenn denkbare Risiken nicht mehr wahrgenommen werden (und ihre Dimension daher nicht mehr nüchtern abschätzbar ist), fällt der Handelnde blind in die nächste Grube.
Hoffnung
Wer diese Eigenschaft besitzt, der zieht Kraft aus seinem Glauben an das gute Ende seiner Unternehmungen oder des Laufs der Dinge. Er lässt sich durch Rückschläge und Hindernisse nicht so leicht entmutigen. Diese Haltung kann entweder aus einem unreflektierten Optimismus entspringen (als reine Gemütsbewegung) oder aus einer tieferen, philosophisch oder religiös begründeten Überzeugung. Hoffnung kann sich auf harmlose Aufgaben und Ereignisse des praktischen Lebens beziehen und entspricht dann einer optimistischen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Hoffnung kann sich aber auch auf menschliche Schicksalsfragen beziehen wie auf die Sorge um die Gesundheit von Angehörigen, auf Kriegsgefahr oder auf das eigene Leben nach dem Tod.
Eine Übertreibung dieser Haltung ist nur denkbar, wenn sich die Hoffnung im Sinne der allzu optimistischen Einschätzung von wahrscheinlichen Zukünften auf Fragen der praktischen Lebensführung bezieht und dabei die Realität völlig aus den Augen verliert.
Friedfertigkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, vermeidet Aggressivität, Gewalt und Feindschaft, wo andere dazu greifen, um damit ihre Interessen und ihre Macht durchzusetzen. Er durchschaut Feindbilder. Konflikte löst er immer fair und friedlich. Denn der Friedfertige achtet seine Mitmenschen unabhängig davon, was er von ihnen hält, und behandelt sie so respektvoll, wie er selbst behandelt werden will. Er sieht die Würde jedes Menschen und erkennt sie ohne Vorbehalt an. Er lässt sich in dieser Haltung auch nicht beirren, wenn er selbst respektlos behandelt wird.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Wenn Friedfertigkeit mit Nachgiebigkeit verwechselt wird oder wenn gesellschaftlich gefährliche Gruppierungen nicht aktiv (wenn auch friedlich) bekämpft werden, werden Kräfte begünstigt, die Friedfertigkeit zerstören und über den Friedfertigen triumphieren.
Fairness
Wer diese Eigenschaft besitzt, würde nie jemanden übervorteilen. Er lehnt für sich und andere Menschen Privilegien ab und will, dass jeder Mensch in gleichem Maße für seine Leistungen belohnt wird und auch Anspruch auf Unterstützung durch die Solidargemeinschaft hat, wenn er sie braucht. Er ist davon überzeugt: Wie im sportlichen Wettkampf sollen für alle Menschen die gleichen Regeln gelten und niemand durch bessere oder schlechtere Bedingungen bevorzugt bzw. benachteiligt werden. Die Haltung der Fairness ist von Hochachtung für alle Menschen geprägt. Wer fair ist glaubt, dass Menschen, die in schwierige Situationen gekommen sind und versagt haben, eine faire Chance verdienen, damit sie wieder auf die Beine kommen können. Fairness kann nicht übertrieben werden.
Wissensdurst
Wer diese Eigenschaft besitzt, geht mit wachen Sinnen und fragendem Verstand durch die Welt. Er achtet dabei die Privatsphäre. Er spürt die aus seiner Sicht wichtigen Informationen auf und will sie verstehen. Er lässt sich nicht mit oberflächlichen Hinweisen abspeisen, sondern bohrt nach und will den Dingen auf den Grund gehen – sei es als ganz normaler Mensch im alltäglichen Leben oder als Wissenschaftler bei der Forschungsarbeit.
Gefahr liegt in der Übertreibung – wo er Menschen mit Fragen und Beobachtungen behelligt, die sich für die entsprechenden Themen nicht interessieren oder sich davon überfordert fühlen.
Festigkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, strahlt Stärke aus. Er steht im Ruf, alle Schwierigkeiten meistern zu können. Er ist kein Kraftprotz, sondern mitfühlend und drängt sich nicht in den Vordergrund. Er verfügt über Kräfte, die ihn widerstandsfähig machen gegen Ereignisse, die andere aus der Bahn werfen. Er ruht in sich selbst und lässt sich nicht aus dieser Ruhe bringen. Die „Stürme des Lebens“ können ihm kaum etwas anhaben. Für seine Mitmenschen wirkt er wie ein Fels in der Brandung. Er selbst weiß, dass seine Festigkeit nur relativ ist, dass sie begrenzt ist.
Gefahr liegt in der Übertreibung. Wenn die Festigkeit unbeweglich und starr wird, verliert sie ihre positive Funktion.
Flexibilität
Wer diese Eigenschaft besitzt, kann sich mühelos an veränderte Verhältnisse und Situationen anpassen, ohne sich dabei untreu zu werden. Er haftet nicht starr an seinen Gewohnheiten, sondern legt sie ab, wenn sie nicht mehr in die Zeit passen. Seine Überzeugungen sind für ihn kein abgeschlossenes Projekt, sondern er reflektiert sie weiter und ist bereit, sie zu ändern, wenn neue Erkenntnisse ihn dazu bewegen. Der Flexible ist also nicht zu verwechseln mit dem wetterwendischen Opportunisten, der nie Stellung bezieht, weil er keinen klaren Standpunkt hat oder diesen verrät.
Gefahr liegt in der Übertreibung. Wenn sich der Flexible anpasst um der Anpassung willen, also ohne Reflexion und Begründung, dann verliert er den Boden unter den Füßen und wird zum Blatt im Wind der Ereignisse.
Beständigkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, gibt nicht schnell auf, sondern bleibt bei dem, was er sich vorgenommen hat – auch bei großen Widerständen. Er misstraut den Verlockungen des Wechsels und neigt der Aussage zu: „steter Tropfen höhlt den Stein.“ Dabei ist er nicht starr und unbeweglich. Aber bevor er seine Meinung, seine Zugehörigkeit, seine Gewohnheiten und Absichten/ Ziele verändert, muss er sehr gute Gründe dafür haben.
Gefahr liegt in der Übertreibung. Wer sein Verhalten oder Vorhaben auf keinen Fall ändern will, obwohl überzeugende Gründe dafür sprechen, der ist erstarrt und macht sich das Leben unnötig schwer.
Wachheit, Realitätssinn
Wer diese Eigenschaft besitzt, ist der Lage, die Dinge wahrzunehmen wie sie sind. Er ist frei von Vorurteilen, Verdrängungen oder Einseitigkeiten. Er macht sich selbst nichts vor und lässt sich auch von anderen nichts vormachen, weil er genau hinschaut. Sein Blick ist nicht getrübt von Wunschvorstellungen und Gefühlen, die geeignet sind, die Wahrnehmung von Wirklichkeit zu verfälschen. Wachheit ist daher immer gepaart mit Reflexion, weil nur das (selbst)kritische Denken den Schleier der verzerrten und gefärbten Wahrnehmung vermeiden bzw. zerreißen kann.
Gefahr liegt in der Übertreibung. Wer allein das Reale beachtet und das noch nicht realisierte Wünschbare aus den Augen verliert, der kann nicht von einer Verbesserung der Wirklichkeit träumen und verliert den Antrieb, der dazu notwendig wäre.
Verantwortungsbereitschaft
Wer diese Eigenschaft besitzt, übernimmt freiwillig und ohne Bitterkeit Aufgaben für die Gemeinschaft, in der er lebt. Er hat erkannt, dass jeder Teil seiner Gemeinschaft in Abhängigkeit zu den anderen Teilen steht. Weil Gemeinschaft nicht ohne Verantwortung funktioniert, ist er bereit, seinen Teil von Verantwortung zu tragen, vielleicht auch mehr, weil andere in seiner Gemeinschaft diese Bereitschaft vermissen lassen. Verantwortung kann sich auf mehrere Ebenen beziehen – von der Ebene überschaubarer Beziehungen zwischen Personen bis hin zur globalen Ebene mit ihren abstrakten Macht- und Funktionszusammenhängen.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Wer nur noch für andere Menschen und für „das Ganze“ Verantwortung trägt, vernachlässigt die Verantwortung für sich selbst und übersieht die eigenen Bedürfnisse.
Selbstgenügsamkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, ist zufrieden mit dem, was er ist und hat. Er fühlt sich „wunschlos glücklich“ und sieht keinen Anlass, etwas an sich oder an den Verhältnissen zu verändern. Ehrgeiz und Strebsamkeit sind ihm fremd. Die selbstgenügsame Person ruht in sich selbst und pflegt eine eher passive, genießende Haltung. Das kann in Fällen, wo sie in beneidenswerten Umständen lebt, sehr plausibel wirken. In Fällen, wo sich eine Person in schlechten und veränderbaren Verhältnissen befindet, wirkt Selbstgenügsamkeit auf die Mitmenschen allerdings eher befremdlich und wird dann als Antriebsschwäche oder Faulheit gedeutet.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Wer in schlechten und veränderbaren Verhältnissen zu selbstgenügsam ist, der verpasst Lebenschancen. Er verpasst diese auch, wenn er sich nicht weiter entwickeln will, obwohl in ihm Fähigkeiten liegen, die er leicht wecken und zur Blüte bringen könnte.
Strebsamkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, ist kaum zufrieden mit dem, was er ist und hat. Er sieht ständig Anlässe, seine eigenen Fähigkeiten weiter zu entwickeln und die Verhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern. Selbstgenügsamkeit ist ihm fremd. Die strebsame Person fühlt sich ständig unterwegs in Richtung besserer Zeiten. In diesem Sinne nutzt sie aufmerksam sich bietende Gelegenheiten, voran zu kommen. Sie ruht sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern pflegt eine unruhig-aktive Haltung. Erfolge werden kaum genossen, weil sie nur als Zwischenstationen eines höheren Ziels gesehen werden.
Gefahr liegt in der Übertreibung: Wer immer nur weiter strebt, ohne Erfolge genießen zu können, der bleibt unzufrieden und kehrt die Strebsamkeit gegen sich selbst.
Empfindsamkeit
Wer diese Eigenschaft besitzt, der spürt mehr als die meisten anderen Menschen, was gerade vorgeht. Seine Sinnesorgane sind empfänglich auch für sehr schwache Reize. Auch seine Wahrnehmung atmosphärischer Einflüsse (Stimmungen) ist stark ausgeprägt. Er leidet unter groben, unbedachten Worten und Verhaltensweisen – ganz allgemein gesagt: unter der Stumpfheit, mit der viele seiner Mitmenschen den unterschwellig wirkenden Dimensionen der Wirklichkeit begegnen. So kann er Menschen gut verstehen, die sich beim Umgang mit unsensiblen Menschen irritiert oder gar verletzt fühlen.
Gefahr liegt in der Übertreibung: wer zu dünnhäutig ist, der leidet auch unter dem üblichen Verhalten sensibler und rücksichtsvoller Menschen.
Verständnis
Wer diese Eigenschaft besitzt, der ist in der Lage, anderen Menschen auch dann mit Wohlwollen zu begegnen, wenn deren Reden und Verhalten nicht den allgemeinen Erwartungen entsprechen. Er ist bestrebt, die Sichtweise von Menschen nachzuvollziehen, die meist auf Unverständnis stoßen. „Er zieht sich ihre Schuhe an“, bevor er sich ein Urteil über sie bildet. Das setzt die Fähigkeit zur Distanz gegenüber sich selbst voraus. Der Verständnisvolle weiß, dass er nicht von sich auf andere schließen darf, sondern dass jeder Mensch eine eigene Geschichte, spezielle Erfahrungen und einen besonderen (individuellen) Blick auf die Wirklichkeit hat. Deshalb neigt er dazu, sich jeden Urteils zu enthalten.
Gefahr liegt in der Übertreibung: wer für alles Verständnis zeigt in dem Sinne, dass er alles für vertretbar hält und kein Tabu mehr anerkennt, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich vor einer klaren Stellungnahme nur drücken will.
Nachbemerkung: Jeder von uns besitzt mehr oder weniger große Anteile dieser zwanzig Eigenschaften/ Fähigkeiten („Tugenden“). Keine von ihnen steht im Widerspruch zu einer anderen, wenn sie maßvoll und situationsgerecht ausgeübt wird. Eine Person kann also alle in sich vereinen – wobei die Mischung jeweils andere Schwerpunkte ausweist. Wir bewundern Personen, die bei sich einige dieser Eigenschaften zur besonderen (maßvollen) Blüte gebracht haben. Es ist kein Mangel, wenn uns gelegentlich Selbstzweifel plagen: Haben wir versagt, weil wir so oft etwas falsch gemacht haben – zu sehr nur an uns gedacht, zu schnell ein Urteil gefällt, nicht ehrlich gewesen, uns etwas vorgemacht, unfair und ungeduldig gehandelt, zu wenig Verantwortung übernommen?
Die genannten Tugenden sind wie Muskeln, die bei Bedarf durch Übung trainiert werden können. So wie jemand wenn er es für nötig hält seine körperliche Fitness erhöht, indem er Übungen gezielt auf die Entwicklung bestimmter Muskeln richtet, so ist es auch möglich, etwas für die „charakterliche Fitness“ zu tun, indem wir daran arbeiten, unterentwickelte Charaktereigenschaften zu verstärken.
Letztlich geht es auch um die Überwindung von Lebenslügen, die unser Leben verdunkeln und hemmen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist Selbsterkenntnis und charakterliche Selbstoptimierung. Wer nach seinen Lebenslügen sucht, kann sich zum Beispiel folgende Fragen stellen:
• Wo mache ich mir was vor, weil ich einer schmerzhaften Wirklichkeit ausweichen will?
• Wo bin ich neidisch auf andere Menschen, nur weil ich mit meiner eigenen Situation unzufrieden bin?
• Wo setze ich mich in ein besseres Licht, nur um mein wackliges Selbstbild zu stabilisieren?
• Wo bin ich unaufrichtig, um von eigenen Schwächen abzulenken?
• Wo verhalte ich mich feige oder zu gleichgültig, indem ich Konflikten ausweiche, die durch Offenheit lösbar wären, auch wenn das unbequem ist?
• Wo nehme ich die Bedürfnisse anderer nicht wahr oder handle rücksichtslos, weil ich mit meinen Gedanken und Interessen zu sehr um mich selbst kreise?
• Wo neige ich dazu, die Ursache von Missgeschicken zu sehr in den Verhältnissen, denen ich ausgesetzt bin, und im Verhalten anderer Menschen zu sehen und zu wenig in meinem eigenen Denken, Fühlen und Handeln?
Die Gefahr der Selbsterziehung liegt in der Verkrampfung unseres Bemühens und im Kreisen um uns selbst. Nur in einer entspannten Haltung der Leichtigkeit kann uns unsere Selbsterziehung gelingen – und im Bewusstsein, dass Aufgaben, die unseren Blick über uns hinaus führen, spannender sind als die Beschäftigung mit uns selbst. Aber die „Flucht nach vorn“ (die Vernachlässigung der Selbsterkenntnis und des Arbeitens an uns selbst bei solchen Aufgaben) kann es auch nicht sein. zum Inhaltsverzeichnis
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