Bei Demos, Kundgebungen und sonstigen größeren Menschenansammlungen kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen – aber dabei gibt es deutliche Unterschiede je nach Land. Wissenschaftler können erklären, warum es in Deutschland friedlicher zugeht als in Frankreich. Weil mich dieser Befund ziemlich überrascht hat, möchte ich aus einem Bericht über eine Tagung deutscher und französischer Konfliktforscher zitieren, über die Till Briegler in der SZ vom 18.2.15 berichtet hat.
Der bekannte Buchautor Jan Philipp Reetsma („Vertrauen und Gewalt“), der das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) leitet, das diese Tagung über urbane Gewalt zusammen mit dem Pariser Justizforschungszentrum CESDIP ausgerichtet hat, schockierte die Teilnehmer mit der Bezeichnung „Gesindel“ für Menschen, die an städtischen Aufständen beteiligt sind. Er sprach über Krawall als Lebensform, über das „Schrebergärtnerhafte“ von Kiez-Aktivismus und über die ausländerfeindliche (xenophobe) Attitüde, die noch in den meisten Ausbrüchen von Gewalt stecke. Von der in der herabsetzenden Bezeichnung „Gesindel“ zum Ausdruck kommenden „Feindbild-Demagogie“ distanzierten sich die Forscher in der anschließenden Diskussion.
Anliegen der versammelten Konfliktforscher war es, aus dem engen Blickwinkel politischer Pauschalverurteilung herauszuführen. „Eskalationsrhetorik“ sei eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
Es ging bei der Tagung nicht um terroristische Anschläge, sondern um kollektive Gewaltausbrüche („Riots“). Zentrales Merkmal: Konfrontation mit der Polizei – von Scharmützeln nach Ausweiskontrollen über gewalttätige Demonstrationen bis zu mehrtägigen und sich ausweitenden Krawallen oder gar revolutionären Entwicklungen.
Einige Untersuchungsergebnisse zum Verhältnis von Stadtraum, Gewalt und Politik, speziell zur Frage, „warum Deutschland so relativ friedlich ist und Frankreich ständig aufgewühlt“:
• „In Frankreich haben die Nachkommen nordafrikanischer Einwanderer zwar Zugang zu Bildung, aber danach nicht zum Arbeitsmarkt, was die soziale Frustration deutlich verstärkt, während die ethnischen Barrieren zum Berufsleben in Deutschland bei Weitem nicht so hoch sind.“
• Zur Rolle der Segregation (der stadträumlichen Ausgrenzung): „Während der landesweiten Unruhen 2005 in Frankreich blieben Stadtviertel, die eine gesunde soziale Mischung unterschiedlichster Bevölkerungs- und Einkommensgruppen aufwiesen, von Krawallen verschont.“
• Selbstverständnis und Vorgehen der Polizei: Die deutschen Ordnungshüter sehen sich als Teil der Bevölkerung und wenden daher meist eine kommunikative, integrative Handlungsstrategie an. Die französische Polizei dagegen agiert im Verständnis, „von der Bevölkerung abgelehnt, ja gehasst zu werden.“ Daher geht sie wesentlich konfrontativer vor.
„Diese Häufung von Beiträgen, die deutsche Vernunft gegen französische Disziplinierung setzte, führte schließlich gerade einige deutsche Forscher zu dem Einwand, dass ihr Land und ihre Polizei vielleicht doch ein wenig zu gut wegkämen. Aber der deutsche Zwang zur Selbstkritik gehört ja vielleicht mit zu den Ursachen, warum hierzulande weniger Eskalation stattfindet.“
Auf der Tagung über Gewalt im städtischen Raum ging es auch um den zentralen Begriff des „Territoriums“. Ein wesentlicher Auslöser für gewalttätige Konfrontation sei die Verletzung von empfundenen Raumgrenzen. Diese werde zum Beispiel empfunden, wenn eine Polizeieinheit in einen Demonstrationszug einbricht oder wenn Polizeistreifen Jugendliche in ihrem Kiez „schikanieren“. Menschen entwickeln zu ihrem Viertel ein subjektives Gebietsempfinden. Deutlich spürbare Veränderungen im Sozialgefüge eines Stadtquartiers durch den Zuzug reicherer oder als „fremd“ empfundener Bevölkerungsgruppen werden oft als Territorialverletzung wahrgenommen. Dieser „archaische Instinkt“ erhöhe die Bereitschaft, „zur Verteidigung des eigenen Gebiets Gewalt einzusetzen.“
Diesen hier knapp wiedergegebenen Bericht möchte nicht kommentieren. Er ist eine wertvolle Information.
Nur eine Information fällt mir in diesem Zusammenhang – Vergleich des Demonstrationsverhaltens in Frankreich und Deutschland – noch ein:
Wir nehmen immer mal wieder staunend zur Kenntnis, dass es in Frankreich riesige Streiks gibt, die von den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen ausgerufen und massenhaft befolgt werden – auch von Berufsgruppen, die sich mit denen solidarisieren, die Forderungen nach höheren Löhnen im öffentlichen Dienst oder andere Forderungen an die Regierung stellen. In gewissen Abständen gibt es sogar Generalstreiks, die das gesamte öffentliche Leben lahm legen.
Bei uns in Deutschland sind gewerkschaftliche Demonstrationen eher mickrig und finden vergleichsweise wenig Resonanz in der breiten Bevölkerung. Sind die Massenproteste in unserem Nachbarland wirklich, wie es scheint, Ausdruck eines wacheren politischen Bewusstseins?
Das denke ich nicht. Ich sehe den Unterschied eher in einer unterschiedlichen Tradition. Wie im Fall der urbanen Gewalt geht es auch bei der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern um unterschiedliche Stile: Konfrontation oder Kooperation.
Hierzu muss man wissen, dass es bei uns ein Gesetz gibt, das den Gewerkschaften eine Macht verleiht, von denen die französischen Gewerkschaften nur träumen können: die Tarifhoheit und die Tarifgebundenheit. Die Unternehmen sind gesetzlich an die Ergebnisse von Lohnverhandlungen zwischen Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer gebunden. Die deutschen Gewerkschaften sehen sich nicht als Klassengegner der Unternehmer, sondern als Partner auf Augenhöhe. Das schafft günstige Randbedingungen dafür, dass Lohnverhandlungen nicht in emotional aufgeheizter Stimmung stattfinden, sondern in einer sachlichen Atmosphäre – unspektakulär und vertrauensbildend.
Dass die (deutschen und französischen) Gewerkschaften seit der fortgeschrittenen neoliberalen Globalisierung – seit Unternehmen mit Produktionsverlagerung drohen können – gegenüber den Arbeitgebern am sehr viel kürzeren Hebel sitzen als früher und daher kaum noch Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen können, steht auf einem anderen Blatt (Beitrag 9, Demokratie). zum Inhaltsverzeichnis
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