Wir wünschen einem Bekannten „viel Erfolg!“, wenn wir ihm beim Abschied etwas Gutes wünschen wollen. Womit er Erfolg haben will, bleibt ihm selbst überlassen. Vielleicht will er in seiner Ausbildung oder im Beruf weiter kommen, vielleicht eine Frau erobern, vielleicht plant er, eine Bank zu überfallen.
Erfolg ist ein neutraler Begriff – ein leeres Gefäß, bei dem es um den Inhalt geht. Auch ein Müllbehälter unterscheidet sich vor allem über seinen Inhalt von einer Schatzkiste. Worin wollen wir erfolgreich sein? Es geht um das, was wir wollen: um unsere Ziele. Wenn wir sie oder wichtige Etappenziele erreichen, dann ist das für uns ein Erfolg.
Das Problem beim Erfolg ist, dass er meist automatisch mit materiellen Zielen in Verbindung gebracht wird. Wenn wir von jemandem sagen: „Er ist sehr erfolgreich“, dann assoziieren wir eine steil verlaufene berufliche Karriere und hohes Einkommen. Wir denken dabei kaum an einen Menschen, der erfolgreich seine Gier nach materiellen Genüssen überwunden hat, zufrieden am Ufer eines Sees entlang spaziert und sich an der Natur erfreut.
Wer das Buch „Haben oder Sein“ von Erich Fromm gelesen hat, der weiß, dass das Streben nach materiellem Erfolg auch Ersatzbefriedigung sein kann. Das Ziel, reich und mächtig zu werden, ist oft nichts anderes als ein Vehikel, um die eigene Sehnsucht nach Anerkennung und Respekt erfüllen zu können – und vielleicht ein Mittel gegen die Angst, den Mitmenschen unterlegen und von ihnen abhängig zu sein oder gar verachtet zu werden. Er weiß: ich werde von meinen Mitmenschen höher geschätzt, wenn ich in teurer Kleidung, mit teurem Schmuck, teurem Auto oder sonstigen Statussymbolen auftrete.
Die Macht des Geldes liegt in seiner Eigenschaft, von sehr vielen Menschen als Maßstab für den Wert eines Menschen gedeutet zu werden: ist er wohlhabend oder arm? Ist er erfolgreich oder ein Versager? Wer diesen Maßstab verinnerlicht hat, der ist in seinem Selbstwertgefühl abhängig davon, dass er immer gut verdient. Er ist zum Knecht einer Vorstellung vom materiell erfolgreichen Leben als dem „richtigen Leben“ geworden. Er ist perfekt an den Kapitalismus angepasst, ist zu einem kleinen Motor geworden, der dieses System am Laufen hält.
Bis hierher können wir noch sagen: selber Schuld! Wer so blöd ist und sich auf so eine Denkschiene begibt, der hat sich selbst in diese Abhängigkeit begeben, der ist freiwillig in ein Gefängnis gegangen. (Ich werde noch darauf kommen, dass es so einfach nicht ist.)
Das Gegenteil eines solchen Gefängnisinsassens ist der alte Grieche Diogenes in der Tonne, jemand, der mit extrem wenig Wohnkomfort zufrieden ist und den Augenblick genießt. Dieser Mensch verfügte über eine Lebensphilosophie, die ihn frei machte von den Wünschen nach Reichtum und Macht. Wir kennen alle die Erzählung: Als Alexander der Große, der reichste und mächtigste Mensch der damaligen Welt, Diogenes begegnete und ihn, weil er ihn als Philosophen bewunderte, fragte: „Was kann ich für Dich tun? Wünsche Dir was immer Du willst! Ich werde Dir diesen Wunsch erfüllen.“, da antwortete dieser: „Geh mir aus der Sonne.“ Mit dieser Bemerkung hat er eine Rangordnung anderer Art sichtbar gemacht. Alexander stand in dieser Ordnung nicht mehr über ihm – als jemand, der ihm an Reichtum und Macht überlegen ist. In den Augen des Philosophen zählten diese Attribute nichts. Es kommt im Leben mehr auf andere Dinge an.
Wenn wir diese beiden Repräsentanten unterschiedlicher Lebensstile vergleichen und uns für Diogenes entscheiden, dann stehen wir nicht mehr unter falschem Erfolgsdruck. Das klingt einfacher als es ist. Warum ist es nicht einfach?
Wir sind Kinder unserer Zeit. Wir passen uns dem „Zeitgeist“ an, um nicht komische Außenseiter zu sein und nicht ausgeschlossen zu werden (siehe Beitrag 2). Der Zeitgeist hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt.
In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts – zu Zeiten der Rebellion gegen „das Establishment“, gegen die „bürgerliche Gesellschaft“, hinter deren glänzender Fassade sich Langeweile, Engstirnigkeit und autoritäres Gehabe verbargen – haben Studenten nach anderen Werten gesucht. Der damalige „Zeitgeist“, zumindest unter jungen Menschen, war anders als der heutige. Reichtum und Machtgehabe wurden verachtet. Das zeigte sich zum Beispiel auch in der bevorzugten Kleidung. Anzüge, Schlips und Kragen waren verpönt, galten als Unterwerfung unter eine zwanghafte Bürgerlichkeit. Man trug Jacken und Bluejeans, die länger hielten und auch nicht unbedingt sauber sein mussten. Die Mädchen kleideten sich in fantasiereiche Kleider und Mäntel. Die Frisuren und Bärte waren nicht gestutzt, sondern sie wurden getragen wie sie wuchsen. Slogans wie „make love, not war“ waren Ausdruck eines freien Lebensgefühls, das sich gegen materielle Statussymbole und falsche Autoritäten abgrenzte.
Heute sind „die 68iger“ und die „Hippies“ out. Manche erinnern sich noch mit romantischen Gefühlen an diese Menschen, andere spotten über sie als „lebensferne Träumer“ und ordnen sie nach den heute geltenden Schablonen als „Versager“ ein. Letzteres hat Alexander der Große mit dem armen Philosophen nicht gemacht. Er hat ihn wohl eher beneidet, denke ich. Er war an seinen „Erfolgsweg“ weiter gebunden und konnte es sich nicht einfach in der Sonne gut gehen lassen. Er hat sich von der „Kunst des einfachen Lebens“ überfordert gefühlt.
Was ist das „gute Leben“? Das ist eine uralte Menschheitsfrage. Peter Sloterdijk sieht die moderne Welt im Steigerungswahn gefangen. Das mittelalterliche Sprichwort „nun plus ultra“ (bis hierher und nicht weiter) wurde vom letzten römisch-deutschen Kaiser Karl V. verkürzt in „Plus Ultra“ (immer weiter). Diese Losung steht heute noch in der spanischen Flagge. Dieser Appell zu einer zügellosen Steigerung ist heute allgemein anerkannt und wird von den Politkern und Wirtschaftsführern Fortschritt und Wachstum genannt. Darauf seien wir angewiesen.
Michel Foucault hat in eine andere, bessere Richtung gedacht und festgestellt: gutes Leben meine natürlich zunächst einmal das angenehme, sichere Leben für den einzelnen. Aber es meine auch das im ethisch-moralischen Sinne „anständige“ Leben im Sinne einer Gemeinschaft, die nicht nur funktiniert, sondern auch die Regeln eines friedlichen, herrschaftsfreien Zusammenlebens beherzigt. Gutes Leben sei immer – und meist sogar zuerst – eine sozial-ethische Kategorie.
Foucault findet für sein Denken Anleitungen, Übungen und Vorschriften in den hellenistischen und römischen Schriften von Platon bis Plutarch, Seneca, Epiktet, Marc Aurel und Plinius. Er hat von ihnen gelernt, was gutes Leben in dieser doppelten Hinsicht (für den Einzelnen und für die Gemeinschaft) sein kann und wie es dazu kommen kann. Schlüsselbergriffe dabei sind Mäßigung und kritsche Selbstbetrachtung. Es geht dabei nicht um Vorschriften der Askese (um Disziplinierung und Gehorsam, wie es im Christentum gepredigt wurde), sondern um Freiheit und Freude. Bei Foucault heißt das die Anleitung zur „Sorge um sich“ (Le Souci de soi), zur „Kultur seiner selbst“, zur „Ästethik der Existenz“. Das ist etwas ganz anderes als was heute unter „Selbstoptimierung“ gemeint ist. Es geht darum, einen Weg zu wählen, „über den man, alle Abhängigkeiten und alle Knechtschaften vermeidend, am Ende sich selbst erreicht.“
Ähnlich sieht es der alte Römer Seneca im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Er will in täglicher Überprüfung „sich vor sich selbst verantworten“, „sich Rechenschaft geben über sein sittliches Verhalten“, „nichts vor sich verbergen“. Er will nicht seine Freude am Leben abtöten, will keinen Sieg über seinen Körper, sondern er will Wahrhaftigkeit. Es geht ihm um Aneignung und Besitz seiner selbst. Er will nur sich gehören, sein eigener Herr sein, niemand sonst gehorchen.
In der „Ästhetik der Existenz“ von Foucault heißt es: „Der Wille, ein moralisches Subjekt zu sein, und die Suche nach einer Ethik der Existenz waren in der Antike ein Bemühen, seine Freiheit zu behaupten und seinem eigenen Leben eine Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte. Sogar die Nachwelt konnte sich daran ein Beispiel nehmen.“ Seneca sagt in diesem Sinne: „disce gaudere“, „lerne, dich zu freuen!“
Von diesem Denken haben wir uns weit entfernt. Bei uns gelten, wie oben ausgeführt, inzwischen andere Maßstäbe und Glücksvorstellungen. Die Dialektik von Individuum und Gemeinschaft, die Spannung zwischen dem Privaten und der Gesellschaft wird heute kaum noch reflektiert, um sie bewusst gestalten zu können, sondern man überlässt das Ruder dem freien Markt.
Das Studium ist inzwischen bei uns total verschult – angepasst an das US-amerikanische Ausbildungssystem, das nicht das Reflektieren und den kritischen Diskurs, sondern das Wiederkeuen von Fakten belohnt (Credit-Points). Sogar in der Grundschule werden die Kinder bereits darauf gedrillt, später wettbewerbsfähig zu sein, erfolgreich im Beruf – weil die Angst vor dem Versagen und vor Armut im Nacken sitzt. Das Leben ist härter geworden. Arbeitslosigkeit droht dem, der nicht frühzeitig seine Weichen im Leben auf Erfolg stellt.
Der Anpassungsdruck hat sich gewaltig erhöht. Das geht zu Lasten eines freien und kreativen Denkens. Das Fragen und Suchen außerhalb dessen, was der Karriere dient, gilt als Zeitverschwenden. Debatten über politische und wirtschaftliche Fragen, auch über Fragen des Lebenssinns, werden als überflüssig abgetan. Alles muss verwertbar sein.
Wir kennen den alten Spruch: „Armut ist keine Schande“. Dieser Spruch scheint mir schon eine Reaktion zu sein auf eine Haltung, die Armut als etwas Schlechtes sieht und die davon betroffenen Menschen geringschätzt. Es geht hier um eine „abgefederte“ Armut, also um eine Lebenssituation, in der nicht gehungert und gefroren werden muss, sondern in der Menschen bescheiden leben können. Ihr Existenzminimum ist gesichert.
Und hier sind wir bei der „Sozialen Marktwirtschaft“ und ihrem sozialen Netz, speziell bei den Empfängern von Hartz IV. Ist ihre materielle Lebenssituation nicht vergleichbar mit der des Diogenes in der Tonne? Sie ist es, allerdings fehlt sehr oft wohl das Entscheidende: die philosophische Lebenshaltung. Es fehlt die Identifikation mit einem Wertesystem, in dem das Materielle einen untergeordneten Stellenwert hat. Und diese auf immaterielle Werte gerichtete Haltung ist in einer Umgebung, in der das verbreitete Denken den Grad des materiellen Wohlstands (den materiellen Erfolg) als Indikator für den Wert des Menschen nimmt, verdammt schwer zu erlangen und durchzustehen. Das Problem ist das Urteil derer, die Armut mit Versagen gleichsetzen, und die Bereitschaft des Armen, dieses Urteil zu übernehmen und sich so sein Selbstbild (seinen Selbstwert) zerstören zu lassen.
Wir Menschen sind nur selten geneigt, die Ordnung in der wir leben, zu negieren und zu sprengen, um uns nach ganz eigenen Vorstellungen zu entfalten. Das ist meist nur ein schöner
Traum. Wir fügen uns meist der herrschenden Ordnung mit ihren Erwartungen an uns.
Die Herkunft des Begriffs Erfolg scheint mir zu sein: „Er folgt“. Er folgt einem Anführer, einem Herrscher, einem Gesetz, kurz: einer Autorität. Die Autorität gibt den Maßstab vor, nach dem die Wirkung einer Handlung bemessen wird. Als erfolgreich gilt, wer im Sinne dieser Autorität eine deutlich überdurchschnittliche Leistung erbracht hat und diese Leistung von ihm selbst und/ oder von den Mitmenschen als etwas Besonderes – eben als Erfolg – gewürdigt wird.
Nicht nur die Armen sind Opfer der erdrückenden Ansprüche einer Leistungsgesellschaft, in der wirtschaftlicher Erfolg zum dominanten Wertmaßstab geworden ist. Auch der Angehörige der Mittelschicht, der in der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und vor dem Absturz in die Armut lebt, fühlt sich als Getriebener. Auch der Berufsanfänger, der, wenn überhaupt, nur eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle ergattert oder sich als Selbständiger seinen Lebensunterhalt verdienen will, steht vor großen Hindernissen, wenn er sich nicht nur als Einzelner durchschlagen, sondern auch noch eine Familie gründen will.
Obwohl ständig die Produktivität steigt, also immer mehr Güter und Dienstleistungen mit immer weniger Arbeitsaufwand entstehen, steigt der Arbeitsstress und die Unsicherheit. Die gestiegenen Gewinne aus der erhöhten Produktivität sammeln sich bei den Kapitaleignern. Die Löhne der Arbeitnehmer in Deutschland sind in den letzten Jahrzehnten dagegen nicht gestiegen. Es werden immer mehr Güter erzeugt, die eigentlich nicht gebraucht und doch gekauft werden. Es wäre klüger, weniger zu konsumieren und dafür mehr Zeit für sich selbst, für den Partner, für die Kinder, für Freunde zu haben. Weniger Arbeit böte die Chance zu mehr Lebensqualität. Weniger Arbeit und weniger Stress böte auch mehr zeitlichen Freiraum für politische und ehrenamtliche Tätigkeiten.
Aber der Mechanismus der Kapitalverwertung geht unaufhaltsam weiter. Die Menschen meinen, ihn bedienen zu müssen, werden zu Rädern in einem Getriebe. Es entzieht sich der politischen Steuerung, weil sich der Staat nur noch als Wirtschaftsstandort versteht und nicht wagt, den Unternehmen im Sinne des Gemeinwohls klare Rahmenbedingungen vorzugeben.
Wem es nicht gelingt, aus dieser alles verschlingenden Dynamik auszusteigen, der wird zum Opfer eines Systemzwangs, der ihm nur eine Wahl lässt: Erfolg oder Scheitern. Die Philosophin Ariadne von Schirach hat in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“ (2014) den Wahn der Selbstoptimierung analysiert und plädiert für eine neue Lebenskunst: die Verweigerung gegenüber dem scheinbaren Zwang, sich in einem sinnlosen Hamsterrad verbrauchen zu lassen.
Im ungebremsten Kapitalismus hält der Wettbewerbsdruck das System aufrecht, treibt es voran und ist Bedingung dafür, dass sich der eigene Wirtschaftsstandort gegenüber anderen Standorten behaupten kann. Diese Eigendynamik wird von den Nutznießern gerühmt, von den Getriebenen und Verlierern gehasst. Vielleicht ist es das, was Adorno meinte, als er sagte: es gibt kein richtiges Leben im falschen. Der Einzelne fühlt sich oft machtlos – als Rädchen im System und als dessen Opfer. Nur die ganz Starken können sich dem allgemeinen Erwertungsdruck erwehren und gegen den Strom schwimmen, indem sie sich dem Konsumwahn entziehen – und die Verachtung ihrer „erfolgreichen“ Mitmenschen aushalten.
Das kann sich ändern. Vielleicht kommt bald eine Zeit, in der die Wachstumsdynamik an ihre Grenzen stößt. Dann wird die von der Werbung erzeugte Welt des Überflusses und des obszönen Zur-Schau-Stellens von Reichtum als gescheitert gelten. Ich denke an die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, an die Notwendigkeit, das wirtschaftliche Wachstum zu begrenzen und einen Lebensstil zu pflegen, der die Quellen der Freude nicht in der materiellen Scheinbefriedigung findet, sondern in gelungenen Beziehungen zu anderen Menschen, in interessanten Debatten, in künstlerischer und handwerklicher Betätigung, im Aufenthalt in einer vielfältigen Landschaft.
Die Debatte über die Grenzen des Wachstums, die 1972 durch den Club of Rome angestoßen wurde und dann in der neoliberalen Epoche unter dem Druck des globalen Standortwettbewerbs versiegte, ist wieder lebendig geworden. Unser Planet kann nicht unendlich ausgeplündert werden. Und die Menschen lassen sich nicht ewig mit der Angst um ihren Arbeitsplatz kleinlaut halten.
Das kapitalistische System steht vor der Wahl: entweder es verstärkt seine soziale und seine ökologische Komponente (anstatt sie neoliberal abzuschmelzen), oder es verliert seine Zustimmung in der Bevölkerung. Diese wird nicht mehr lange hinnehmen, dass trotz steigender Produktivität „unten“ nichts ankommt und sich der Reichtum nur „oben“ ansammelt. Wenn auch die Mittelschicht mehr und mehr erkennt, dass ihr Wohlstand bröckelt und sogar abzurutschen beginnt, wird sich die Bevölkerung nicht mehr länger der anonymen Macht der Märkte unterwerfen, wird ihren Glauben an die neoliberal infizierten Experten (in der Wissenschaft und in den Medien) verlieren und sich die Demokratie (die politische Selbstbestimmung) zurückholen, siehe auch Beitrag 22.Dem. zum Inhaltsverzeichnis
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