Wir Menschen sind doch ziemliche Individualisten. Jeder von uns ist auf seine eigene Art mehr oder weniger günstig oder einschränkend sozialisiert worden, jeder hat seine speziellen Vorstellungen vom Leben und entsprechende Wünsche und Sehnsüchte – und hat sich sein eigenes „Modell von der Wirklichkeit“ im Kopf gebildet, weil anders niemand mit der Komplexität zurande käme. Auch sind wir unterschiedlich anfällig gegenüber Zukunftsängsten oder neigen mehr oder weniger zu Optimismus und Visionen. Kurz gesagt: wir sind sehr unterschiedlich. Das betrifft natürlich auch unsere politische (eher „konservative“ oder eher „fortschrittliche“) Einstellung und speziell unsere Erwartungen an die Politik und den Staat.
Ganz allgemein kann wohl gelten, was die amerikanische Anthropologin Margaret Mead an die Adresse politisch engagierter Bürger gesagt hat: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe besonnener, engagierter Bürger die Welt verändern kann. Tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der sie jemals verändert wurde.“ Aber was heißt „besonnen“? Diesen Anspruch erhebt wohl jeder Bürger, der sich ernsthaft politisch artikuliert und engagiert. Er kann sich natürlich auch irren – aus der Sicht eines anderen „besonnenen“ Bürgers. Das Hervorheben der Besonnenheit ist jedenfalls richtig: das Gegenteil von hektischem Aktionismus, bei dem das kritsche Nachdenken und der Selbstzweifel ganz unter den Tisch fallen.
Es wäre ein rational nicht nachvollziehbares Wunder, sollte es in der Demokratie gelingen, den „Willen des Volkes“ (der Gesellschaft) zu erkunden und zu vollziehen. So ein „Wunder“ gelingt nur einem Diktator. Denn „den“ Willen so vieler unterschiedlich tickender Individuen kann es gar nicht geben. Wie ich im vorangegangenen Beitrag (Das Dilemma der Demokratie und seine „Lösung“) deutlich gemacht habe, muss der Wille der Vielen gebündelt werden, damit kein Chaos entsteht. Diese Bündelung erfolgt durch eine Minderheit relativ mächtiger Vertreter einzelner Interessen und Sichtweisen, die als Sprachrohr der von ihnen vertretenen Gruppen auftreten. Sie alle verstehen sich als Sprecher des Gemeinwohls, auch wenn sie Partialinteressen vertreten.
Diese überwiegend informellen (nicht durch Wahl legitimierten) Inhaber der gesellschaftlichen Macht handeln ihre unterschiedlichen Interessen – verstanden als Mosaiksteine des Gemeinwohls – miteinander aus und müssen dabei natürlich Kompromisse schießen, die meist als faul empfunden werden. Diese informelle Macht ist zu unterscheiden von der formellen Macht der durch Wahl legitimierten Abgeordneten der Parlamente.
Das ist meine Theorie. Die Praxis ist natürlich komplizierter. Der kleinen Minderheit dieser Vertreter mächtiger Interessen steht der einzelne Bürger ziemlich hilflos gegenüber, wenn er sich von dieser Minderheit nicht vertreten sieht.
Wer als Einzelner zu einer mehr oder weniger klaren politischen Position gefunden hat und die daraus abgeleiteten Forderungen an die Politik herantragen will, der sucht sich nach Möglichkeit Verbündete, indem er sich einer Partei oder einer zivilgesellschaftlichen Gruppe anschließt. Zusammen mit diesen Gleichgesinnten möchte er sodann für seine Forderungen öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen, zum Beispiel durch Teilnahme an einer Demonstration.
Bevor ich drei Einsichten zur Rolle und Wirksamkeit von Demonstrationen zum Besten gebe, möchte ich aus einem Artikel des Schriftstellers Ingo Schulze zitieren, den er am 27.1.2015 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat. Mit seinem Beitrag „Nützliche Idioten“ bezieht er sich erst auf eine Pegida-Demonstration mit Gegendemonstration in Dresden und dann auf eine Großdemo in Berlin zu einem anderen Thema.
Ingo Schulze: „Auf die Frage, warum wir in Deutschland nicht viel häufiger auf die Straße gehen, habe ich keine Antwort.“ Er berichtet von einer Pegida-Demonstration. Dort machen sich Leute mit großer Wut im Bauch Luft in ihrer Ablehnung der herrschenden Politik und fordern zum Beispiel Volksentscheide, mehr Meinungsfreiheit und eine besser geregelte Einwanderungspolitik. Manche Forderungen wurden auch schon von anderen (allgemein akzeptierten) Demonstranten vorgetragen, andere schüren im Kontext der emotional aufgeheizten Stimmung Vorurteile gegen den Islam. Als die Hauptrednerin ans Mikro geht, um ihren Unmut über eine falsche Politik zu artikulieren, stellt sich der Schriftsteller vor, welche Themen sie wohl ergänzend zu ihren (enttäuschenden) Vorrednern ansprechen wird. Er hofft, dass sie nun endlich zum Ausdruck bringt (und erklärbar macht) warum sich so viele kritische Bürger zu so einer Großdemonstration versammeln:
„Sie wird davon sprechen, dass mit dem Ausbruch der Finanz- und Bankenkrise im September 2008 offensichtlich wurde, dass das Gemeinwesen die Geisel jener ist, die jahrelang exorbitante Gewinne eingesteckt haben und einstecken. Gleich wird sie sagen, dass die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft Existenzängste schürt, die Polarisierung der Welt in Arm und Reich jede Minute Menschen sterben lässt. Sie wird sagen, dass die sogenannten Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada (TTIP und Ceta) wie auch ähnliche Abkommen die Widersprüche zeichenhaft bündeln und eine nicht hinnehmbare Überantwortung von politischer und rechtsstaatlicher Souveränität an Konzerne bedeutet, ein erneutes Einknicken der Politik vor jenen, die den eigenen Profit über alles stellen. Sie wird jetzt gleich über Snowden sprechen, über die Foltergefängnisse der CIA und über die rasante Verarmung in einem Land wie Griechenland, in dem schon ein Drittel der Bevölkerung keine Krankenversicherung mehr besitzt. Und dann wird sie von der Verantwortung Europas sprechen, von unserer Verantwortung, weil sich kein Konflikt dieser Welt verstehen lässt ohne die Geschichte des Kolonialismus und des Kalten Krieges und des Neokolonialismus. Sie wird sagen, dass es eine Schande ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Es gibt viel zu viel zu sagen. Es ist wichtig, wird sie am Ende rufen, auf die Straße zu gehen und die Politik zu zwingen, im Sinne des Gemeinwesens und nicht des Profitstrebens zu handeln.“
Er wird natürlich wieder enttäuscht. „Statt von sozialer Ungerechtigkeit zu sprechen, prangert man jene an, die angeblich arbeitsscheu sind, der permanente Kniefall der Politik vor den Forderungen der Wirtschaftslobby wird auf die Fremdbestimmung von Brüssel reduziert.“
Und er resümiert: „Für konservative und regierende Parteien sind Pegida-Demonstationen eine bequeme Opposition, denn die eigentlichen Fragen werden nicht gestellt. Pegida sind die nützlichen Idioten. Mit dem Hinweis auf sie können Gesetze verschärft und kann grundsätzlich Opposition diskreditiert werden.“
„Aber die Gegendemonstranten sind auch keine Hilfe, zumindest keine, die unsere Probleme besser formulierte… Manche halten den Blockierern Plakate hin, die diese auch selbst gemacht haben könnten: „Keine Waffenexporte! Keine Flüchtlinge“, „Volksabstimmung über NATO und EU“ – Und plötzlich entsteht in mir ein Verdacht: Wenn sich beide Seiten nicht im feindlichen Gegeneinander erschöpften, sondern wechselseitig ihr Unbehagen am Status quo artikulierten – wie groß wäre die Zahl der Gemeinsamkeiten? Ich vermute, überraschend hoch.“
Abschließend berichtet Ingo Schulze vom Potsdamer Platz in Berlin, wohin sechs Tage später fünfzigtausend Demonstranten gekommen waren, doppelt so viele wie in Dresden. „Und jetzt kam all das zur Sprache, was ich in Dresden vermisst hatte – und noch einiges mehr….Das müssten sie sehen, die Pegida-Dresdner, ihre Befürworter und ihre Gegendemonstranten. Aber von diesen Demonstranten hörte und las man erstaunlich wenig. Alle Journalisten, mit denen ich in den letzten Tagen sprach, wussten kaum, was ich meinte, wenn ich die fünfzigtausend (oder mehr) Demonstranten erwähnte, die ohne nennenswertes Polizeiaufgebot gegen die Politik der Bundesregierung auf die Straße gegangen waren. Hier wurde die Alternative sichtbar. Wir alle hätten nur hinhören und hinsehen müssen.“
Was lernen wir aus diesen erhellenden Ausführungen von Ingo Schulze?
Erstens: Auch wenn zehntausende Menschen auf die Straße gehen, bedeutet das nicht, dass sie den „Willen des Volkes“ zum Ausdruck bringen. Ihr Erfolg liegt im besten Fall darin, dass sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Thema und auf den eigenen Standpunkt lenken, eine politische Debatte anstoßen und damit einen mehr oder weniger großen Druck auf die Politiker ausüben, in ihrem Sinn zu handeln (denn nichts fürchten und hoffen die Politiker mehr als den Verlust bzw. den Gewinn von Wählerstimmen, weil diese die Basis ihrer politischen Macht darstellen).
Zweitens: Nicht die Demonstranten mit den besten Argumenten erreichen die meiste Aufmerksamkeit, sondern die, über die am meisten in den Medien berichtet wird. Medien berichten vor allem dann, wenn Gewalt/ Kravall entsteht oder hoch sensible und umstrittene Themen und Sichtweisen auf der Straße proklamiert werden. (Gegendemonstranten sollten daher aggressive Verhaltensweisen vermeiden, weil sie damit ihrem Gegner mehr nützen als schaden)
Drittens: Welche Formen und Inhalte einer Demonstration überzeugend oder abschreckend wirken, hängt davon ab, ob deren Mitläufer und Beobachter eher kritisch-nachdenklich gestimmte Menschen sind oder solche, die sich von (geistlosen) Schlagworten beeindrucken und motivieren lassen. Das geistige Niveau der am meisten besuchten Demonstrationen erlaubt Rückschlüsse auf die Seelenlage und geistige Verfasstheit der Gesellschaft.
In meinem nächsten Beitrag („Die besondere Macht der Wirtschaft“) werde ich weiter der Frage nachgehen, warum die Wirtschaftslobby so viel mehr Macht hat als die anderen Interessenvertreter – in unserem Staat ebenso in der EU und weltweit. zum Inhaltsverzeichnis
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