In den meisten Köpfen und in unserem Bildungssystem werden Berufe mit akademischem Abschluss höher geschätzt als Berufe, die kein Abitur und Studium, sondern einen Realschulabschluss und handwerkliche Ausbildung voraussetzen. Zurzeit machen etwa 50% der Schulabgänger ein Abitur (das ist eine Verdoppelung der Abiturientenquote seit dem Jahr 2000) und studieren – mit dem Ergebnis, dass sehr viele frisch gebackenen Akademiker aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in ihrem Fach keine Anstellung finden, bei der sie genug verdienen, um eine Familie gründen und ernähren zu können. Und in den handwerklichen Berufen herrscht Fachkräftemangel.
Viele Eltern sind von einer panikartigen Vorstellung befallen: wenn ihre Kinder kein Abitur und Studium vorweisen können, sind sie später im härter gewordenen Konkurrenzkampf um gut bezahlte Arbeitsplätze benachteiligt. Daraus folgt: Viele Kinder werden schon in der Grundschule von ihren Eltern unter Druck gesetzt, gute Noten mit nach Hause zu bringen, damit sie es aufs Gymnasium schaffen. Dieser Leistungsdruck in frühen Jahren richtet psychische Schäden an, von denen wir uns gar keine Vorstellungen machen können. Sie sind wissenschaftlich kaum untersucht.
Leider beziehen sich die Eltern teilweise auf reale Bedingungen, jedenfalls, wenn wir uns die beruflichen Aussichten im öffentlichen Dienst vor Augen führen. Dort gilt der Schulabschluss und viel zu wenig die persönliche Leistungsfähigkeit als Kriterium für Bezahlung und Fortkommen. In der Privatwirtschaft ist es sehr viel einfacher, sich nach Leistung zu qualifizieren. Wer einen handwerklichen Beruf erlernt hat, verdient sehr oft wesentlich mehr als ein Gleichaltriger, der akademisch ausgebildet ist. Zahlen dazu sind in dem Buch von Nida-Rümelin „Der Akademisierungswahn“ (2014) zu finden.
In einem Interview der FAZ (17.4.2015) erläutert Nida-Rümelin die Botschaft seines Buches: „Wieso soll man es abwerten, wenn jemand praktische oder künstlerische Talente an sich entdeckt und entwickelt? Unsere Schulen vernachlässigen das aber. Sie sind einseitig auf das Kognitive und die meist nur kurzfristige Wissensakkumulation orientiert, das Ästhetische, das Technische, das Soziale kommt zu kurz“. Er fordert „gleichen Respekt vor allen Talenten“. Jede Begabung sei gleichwertig. „Eine Elektrotechnikerin verdient die gleiche Anerkennung wie ein Professor oder ein Manager oder eine Erzieherin…Wir müssen uns schon die Frage stellen: Macht eine Erzieherin einen wichtigen Job? Ja! Übt sie eine qualifizierte Tätigkeit aus? Ja! Brauchen wir diesen Beruf? Ja! Wie kommen wir dann dazu, sie so miserabel zu bezahlen, dass eine Erzieherin sich eine Stadt wie München praktisch nicht leisten kann und wir entsprechend einen großen Arbeitskräftemangel in diesem Bereich in den Großstädten haben?“
Die Tageszeitung (TAZ) wendet gegen Nida-Rümelins Warnung vor einer Überbewertung des Universitätsstudiums ein: Wenn er konstatiere „Die Krise der beruflichen Bildung ist vor allem eine Krise der Anerkennungskultur“, mache er es sich zu einfach. Der TAZ-Autor verweist als Gegenargument auf das Einkommen und die Karrierechancen einer Erzieherin und einer Lehrerin: „Die Erzieherin bekommt, sofern sie im öffentlichen Dienst angestellt ist, ein Einstiegsgehalt von 2.311,21 Euro. Die ebenfalls angestellte Grundschullehrerin startet in der Tariftabelle der Länder mit 2.787,69 Euro. Die Gehaltsunterschiede werden mit der Zeit größer, nach fünf Jahren verdient die Lehrerin nicht mehr nur rund 440 Euro, sondern bereits 625 Euro mehr als ihre Kollegin. Beide betreuen dieselben Kinder, die Gehaltsunterschiede sind in erster Linie auf Unterschiede in der Qualifikation zurückzuführen. Die Lehrerin hat studiert, die Erzieherin nicht. Die Lehrerin kann mal Schulleiterin werden, nicht die Erzieherin.“
Diesen Hinweis verstehe ich allerdings nicht wie der TAZ-Autor als Gegenbeispiel, sondern als Bestätigung dessen, was Nida-Rümelin anprangert: die falschen Anreize, die der öffentliche Dienst setzt – mit dem Ergebnis, dass auch junge Leute an die Universitäten streben, deren Stärken weniger im Kognitiven als im Handwerklichen liegen.
Der TAZ-Autor meint, Nida-Rümelins Plädoyer für eine erneute Hinwendung zur Berufsausbildung lese sich wie eine Streitschrift für die Universität der Wenigen, frei nach dem Motto: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Dies halte ich allerdings für eine Fehldeutung der berechtigten Warnung vor dem Akademisierungswahn. Hochwertige Bildung und Ausbildung sind nach meinem Verständnis nicht auf die akademische (auf kognitive Fähigkeiten bezogene) Qualifizierung begrenzt, sondern können auch auf die Weiterentwicklung handwerklicher, emotionaler und künstlerischer Eigenschaften und Fähigkeiten bezogen werden.
Das fällt den meisten von uns allerdings schwer, weil wir gewohnt sind, den Akademiker für klüger zu halten als den Handwerker, wobei „klüger“ mit „intelligenter“ gleichgesetzt wird. Diesem Irrtum liegt eine in den letzten zwei Jahrhunderten gewachsene Tradition der Überbewertung des theoretischen gegenüber dem praktischen Wissen zugrunde. Wir wissen inzwischen: Ein kluger Mensch ist nicht einer, der einseitig mit intellektuellen Fähigkeiten (besonders gut entwickelter sprachlicher oder mathematischer Kompetenz) punktet, sondern einer, der in seinem privaten und beruflichen Leben schwierige Situationen meistern kann, und dazu gehören neben intellektuellen Basiskompetenzen auch andere – emotionale, soziale und praktische – Fähigkeiten, Begabungen, Eignungen.
Als bildungspolitischer Nicht-Fachmann denke ich, dass sich der Akademisierungswahn von selbst erledigen wird, allerdings nur, wenn der Markt – das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage – stärker zur Geltung kommt. Dessen Regeln setzen sich nur bei verstärktem Wettbewerbsdruck durch, bei dem sich ein Unternehmen auf Dauer keine Fehlbesetzungen leisten kann. Dass der Wettbewerbsdruck auch eine (vermeidbare) fatale Seite hat, werde ich noch am Schluss meiner Überlegungen thematisieren.
Die Fixierung auf akademische Abschlüsse (zum Beispiel im öffentlichen Dienst) bringt auf Dauer nicht nur wirtschaftliche Nachteile, sondern wird auch aus Gründen der Gerechtigkeit nicht mehr so einfach hingenommen werden. Warum soll jemand, der ohne akademischen Abschluss mehr leistet als sein akademisch ausgebildeter Kollege, weniger Geld verdienen und weniger Aufstiegschancen haben als sein Kollege mit Universitätsabschluss? Wie gesagt, schon heute verdienen Handwerker oft mehr als Akademiker.
Ich sehe allerdings zwei Hindernisse, die diesem notwendigen Wandel entgegenstehen. Das ist erstens die Trägheit des öffentlichen Dienstes, der eine Bewertung von Dienststellen nach überkommenem Schema F vorzieht, weil der Erfolg in diesem Tätigkeitsbereich nicht nach ökonomischer Effizienz bemessen werden kann. Das zweite Hindernis liegt in der Schwierigkeit, im Rahmen einer arbeitsteilig erbrachten Leistung die unterschiedlichen Teilleistungen miteinander zu vergleichen. Jeder im Team tut was er kann, indem er seine Teilaufgabe löst, die ebenso wichtig ist wie alle anderen Teilaufgaben. Wenn hier eine unterschiedliche Bezahlung plausibel begründet werden kann, dann nur nach dem Kriterium der Knappheit: benötigte Fähigkeiten, die selten vorkommen, werden besonders gut bezahlt. Und diese Seltenheit kann bedingt sein entweder durch eine besonders hervorragende Begabung auf dem gefragten Gebiet oder durch eine spezielle Ausbildung, die genau auf die geforderte Leistung zugeschnitten ist und gleichzeitig relativ selten absolviert worden ist.
Für jeden jungen Menschen stellt sich schon als Schüler die sehr schwierige Frage, ob er später studieren oder eine Lehre machen will. Da heute leider noch die akademische Laufbahn ein höheres Prestige besitzt, wird er sich zunächst bemühen, die Voraussetzungen für ein Studium zu erfüllen. Er wird also das Abitur anstreben. Wenn er merkt, dass er es nicht schafft, wird er sich als Versager empfinden – und auch fürchten, in den Augen der akademisch geschulten Freunde an Ansehen zu verlieren. Es geht dabei nicht in erster Linie um das Einkommen, sondern vor allem um das Ansehen in der Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Er muss sich also um einen anderen Freundeskreis bemühen, in dem Abitur und Studium kein nennenswertes Kriterium für die Position in der Gruppe darstellen.
Ein Gesichtspunkt sei hier noch angesprochen, der nichts mit dem Unterschied von akademischer und beruflicher Ausbildung zu tun hat, sondern mit der Bewertung beruflicher Arbeit über deren Entlohnung. Wenn diese Bewertung leistungsbezogen sein soll (dafür plädiere ich), dann darf diese Bewertung nicht durch einen übersteigerten Wettbewerb verzerrt werden. Was meine ich damit?
Ich denke an den ungezügelten Markt und seine unerwünschten Auswirkungen auf die Bewertung von beruflicher Leistung. Ein Grundproblem sehe ich in der irrational großen Spreizung der Einkommen. Extrem hohe Einkommen sind ebenso wenig mit Leistung begründbar wie extrem niedrige Einkommen. Gemessen an der Leistung ist nicht nachvollziehbar, dass sich die monetäre Bewertung der Arbeit (Einkommen pro Zeiteinheit) zweier Personen mehr als um das Zehnfache unterscheidet. Mein Vorschlag: Die Spreizung der Einkommen sollte per Gesetz gedeckelt werden, etwa so: in einem Unternehmen darf die höchste Bezahlung pro Stunde Arbeitseinsatz nicht höher sein als das Zehnfache des niedrigsten Stundenlohns.
Die einzige (wenn auch sehr schwerwiegende) Schwierigkeit, die dem Funktionieren dieser Regel entgegensteht, ist die Begrenzung der Gültigkeit dieser Regel auf das Land, in dem diese Regel verbindlich ist. Denn Menschen, die in einem anderen Land sehr viel mehr Geld verdienen können als im eigenen Land, würden wohl in sehr vielen Fällen dorthin auswandern. Daher stellt sich die Frage, ob wir in kauf nehmen wollen, dass der eigenen Volkswirtschaft extrem hoch bezahlte Spezialkräfte verloren gehen. An der mehrheitlich gegebenen Antwort auf diese Frage ist kürzlich in der Schweiz ein Volksbegehren, das die Gehaltsunterschiede auf den Faktor zwölf begrenzen wollte, gescheitert. Ich meine, wir könnten auf Leute verzichten, deren Arbeitsmotivation so viel mehr durch Geld als durch ihre beruflichen Aufgaben bestimmt ist. Man könnte eine teure Spezialausbildung an die Bedingung knüpfen, dass der Ausgebildete nach Beendigung seiner beruflichen Ausbildung oder seines Studiums seinen Beruf mindestens zehn Jahre im eigenen Land ausübt oder die für seine Ausbildung ausgegebene Summe an den Staat zurückzahlt.
Am Schluss möchte ich noch eine grundsätzliche Bemerkung zur Bildung und Ausbildung machen, damit das bisher Gesagte nicht missverstanden wird. Die gern synonym verwendeten Begriffe „Bildung“ und „Ausbildung“ setzen unterschiedliche Akzente. Während die Ausbildung auf die Anwendung von Wissen zur Bewältigung beruflicher Anforderungen abhebt, hat Bildung eine über solche Zweckbestimmung weit hinausreichende Bedeutung: die Entwicklung der Persönlichkeit durch Herausbildung eines (selbst)kritischen Denkens und Urteilens, also einer Fähigkeit, die den Charakter eines Menschen formt. Kritisches Denken und Urteilen ist mehr als eine rein rationale Verarbeitung von Informationen, denn es bezieht auch die Bewertung von Informationen ein, also Gefühle (wie Anteilnahme, Mitgefühl) und moralische Maßstäbe (wie Gerechtigkeit und Rücksicht). Hier ist also der „ganzheitliche Mensch“ gefordert, der Stellung bezieht und sich bemüht, diese nach bestem „Wissen und Gewissen“ zu begründen. zum Inhaltsverzeichnis
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