Unter Moderne kann man so manches verstehen. Ich begreife sie philosophisch und verstehe darunter die Zeit, seit sich das Denken von vorgegebenen Inhalten in aller Öffentlichkeit frei machen kann, also aufgeklärtes Leben möglich ist. Die Moderne ist nicht irgendeine Zeitepoche, sondern die letzte und – gemessen an der Werteskala der Menschenrechte – die höchste, die es geben kann. Eine Gesellschaft, die sich auf sie beruft, muss sie sich verdient haben. Diese Bedingung gilt auch für das Individuum.
Die Moderne, wie ich sie verstehe, zeichnet sich gegenüber vorangegangenen Zeiten dadurch aus, dass sie sich nicht auf religiöse oder ideologisch-totalitäre Sinnordnungen gründet, sondern sich am Ideal der kritischen Vernunft des Individuums orientiert. Die Moderne spricht dem Einzelnen die Freiheit zu, sich nicht bevormunden zu lassen. Aber genau in dieser Stärke liegt auch ihre Schwäche und Angreifbarkeit. Denn das Vertrauen in die kritische Vernunft des Menschen und in seine Kompetenz, mit seiner Freiheit verantwortlich umzugehen, lässt sich allzu leicht als Illusion entlarven. Was folgt daraus? Müssen wir Aufklärung und Moderne abschreiben angesichts der Unvernunft so vieler Menschen und ihrer Unfähigkeit, Freiheit sinnvoll zu nutzen – als Einzelne und als manipulierbare Medienkonsumenten, als Angehörige von mit Scheuklappen behafteten Interessengruppen, unvernünftigen Lebensstilen oder ideologisch eingefärbten Weltanschauungsgemeinschaften?
Nein. Denn zur kritischen Vernunft gehört die Skepsis gegenüber Verallgemeinerungen, gehört die Einsicht, dass Verallgemeinerungen zwar gebräuchlich sind – kontrollierte Verallgemeinerungen gehören sogar zu den methodischen Grundpfeilern der Wissenschaften – jedoch meist (oder sehr leicht) in die Irre führen. Wer ganzen Zeitabschnitten (Epochen, Generationen, dem Zeitgeist) eine Bezeichnung verpasst oder sich einer solchen bedient, der sollte wissen, dass er sich dabei in einer konstruierten „Landschaft“ befindet. Der sollte wissen, dass verallgemeinernde Bezeichnungen Bezug nehmen auf mehr oder weniger willkürlich (oder mit bestimmten Absichten) herausgegriffene Einzelphänomene, die als Zeichen für das Ganze herhalten.
Um verständlich zu machen, was ich meine, vergleiche ich den Strom der Zeit mit einem Flusslauf. Wenn ich ein Netz in diesen Fluss halte, dann werde ich irgendwann vielleicht einen Fisch fangen. Welcher Fisch das ist, hängt von meinen Absichten ab, also davon, an welcher Stelle und zu welcher Tageszeit ich gezielt das Netz mit bestimmter Maschenweite ausgeworfen habe. Unter den vielen Fischarten, die im Fluss leben, fange ich z.B. einen Karpfen, eine Forelle oder eine Äsche. Der Einfachheit halber könnte ich einen Leitfisch (z.B. die Forelle) als die Art bezeichnen, mit dem ich das Charakteristische dieses Flussabschnittes zum Ausdruck bringe. Ich verpasse also diesem Abschnitt das Etikett „Forellenregion“, obwohl dieser Abschnitt noch viele andere Lebewesen und anorganische Eigenschaften (Geröll, Strömungsgeschwindigkeit, Wassertemperatur etc.) aufweist.
So verhält es sich auch im Falle der Moderne. Eine besondere Eigenschaft des Menschen tritt mit ihr in den Fokus der Aufmerksamkeit: seine Befreiung von selbstverschuldeter Unmündigkeit (wie es Immanuel Kant, der wichtigste Theoretiker der Moderne, auf den Punkt gebracht hat). Auch schon in früheren Epochen gab es aufgeklärte, selbständig denkende Individuen. Aber sie wurden von den maßgeblichen Chronisten und Geschichtsschreibern nicht als „Leitarten“ definiert. Denn andere „Arten“ bestimmten den Charakter der Zeit und ihrer Kultur, z.B. Adel und Klerus. Sie hatten mit dem freien Denken wenig am Hut. Die Untertanen parierten besser, wenn sie in einer vorgegebenen geistigen Ordnung fest eingebunden waren.
Die Moderne („die aufgeklärte Epoche“) versteht sich übrigens nicht als eine einseitig auf die Ratio fixierte Zeit. Das wird manchmal böswillig unterstellt. Man beruft sich dabei auf „Freigeister“, die sich allein von ihrem Verstand leiten lassen. Die meisten Zeitgenossen glauben an bestimmte Sinnordnungen. Vernunft geht über das bloß rationale Erfassen von Wirklichkeit hinaus. Sie umfasst auch Gefühle, Intuitionen und die Möglichkeit spiritueller Erfahrungen.
Ich selbst zum Beispiel denke, dass es eine höhere Ordnung gibt, kann sie jedoch nicht genauer bezeichnen. Die Ordnung, an die ich glaube (man kann das auch Gott nennen), ist ein Geheimnis, dessen Wirken sich in Teilen erahnen lässt. Diese erahnten Gesetze des Lebens bestätigen sich in bestimmten Situationen, verweigern sich aber als Ganzes dem menschlichen Erkenntnisvermögen. So wie eine Ameise in der Küche zwar ihren kleinen Lebensraum überblickt, jedoch kein Bewusstsein vom ganzen Haus haben kann, so kann der Mensch auch nicht solche Dimensionen des Lebens erfassen, die seinen Sinnesorganen und seinem logischen Denken verschlossen sind. Sie übersteigen seinen menschlichen Horizont. Mein sehr allgemein gehaltener Glaube lässt sich auch nicht einer bestehenden Religion zuordnen. Er gibt mir immerhin eine gewisse Gelassenheit, weil ich unterstelle, dass diese Ordnung einen Sinn ergibt. So viel Abstraktion (Verzicht auf Glaubensdogmen) ist nicht jedermanns Sache.
In der Moderne haben viele Weltanschauungen Platz – so wie es viele Fische in einem Fluss gibt. In der Moderne gibt es keinen Glauben und keine Ideologie, der/ die sich als Wahrheit ausgeben kann und für alle Menschen gilt. Die mit dieser Ungebundenheit zusammenhängende Notwendigkeit des Einzelnen, sich frei zu entscheiden, wie er die Welt deuten möchte und welche Schlüsse sich daraus für sein Leben ergeben, ist eine Herausforderung, die durchaus anstrengend sein kann. Fundamentalisten jedweder Couleur, die sich der Anstrengung und dem Risiko des selbstbestimmten Lebens entziehen, leben nicht in der Moderne, sondern in einem vormodernen Denk- und Lebensraum.
Wir müssen in der Moderne nicht im empirisch Beweisbaren verhaften bleiben, können uns auch einem kirchlich, esoterisch oder philosophisch orientierten Glaubensgebäude anschließen und dieses wieder verlassen, wenn es uns nicht mehr überzeugt. Wir können uns auch einfach nur treiben lasse – ohne jede gedankliche Grundorientierung. Das Gemeinsame aller Wissens- und Glaubensrichtungen, die sich der Moderne zugehörig fühlen, ist die bewusste Entscheidung, was wir denken und wie wir leben wollen. In allen Fällen kommt es darauf an, ob sich die jeweilige Weltanschauung – sei es eine rein rationale Einstellung, der Glaube an etwas Höheres oder eine nihilistische Haltung – auch in persönlichen Krisenzeiten und beim Sterben als tragfähig erweist. zum Inhaltsverzeichnis
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