In diesem Beitrag will ich mich nicht etwa mit dem Tierschutz beschäftigen, sondern darüber nachdenken, was eigentlich der wichtigste Unterschied ist zwischen Mensch und Tier – und was daraus folgt.
Das Tier genügt sich selbst. Zwar sind sowohl wilde Tiere als auch Nutztiere einschließlich Schoßhündchen total abhängig von den äußeren Bedingungen, die ihnen Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Pflege der Nachkommen und Schutz vor Fressfeinden ermöglichen, aber sie reflektieren nicht ihre Situation, fühlen sich nicht für irgend etwas verantwortlich und haben keine Sorgen, weil sie sich mögliche Zukünfte nicht vorstellen können. Sie fühlen Schmerzen und wittern Gefahren, aber das tun sie ganz im Hier und Jetzt. Sie bewahren sich ihr eigenes Leben (manchmal auch das ihrer Nachkommen), indem sie sich so gut wie möglich an die gegebenen Bedingungen anpassen. Sie meiden widrige Umstände und Gefahren, halten sich in ihrer „ökologische Nische“ auf – auch wenn sich diese „Nische“ nicht mehr in der freien Natur, sondern im Haus, im Stall und auf der Weide befindet, das Tier also eine mehr oder weniger enge Symbiose mit dem Menschen eingegangen ist wie z.B. die Kuh oder das erwähnte Schoßhündchen.
Um diese Anpassung an ihre mehr oder weniger artgerechte Umwelt leisten zu können, verfügen Tiere nicht nur über Instinkt, sondern auch über Verstand und Gefühle: sie leiden oder sind zufrieden und lernen aus Erfahrungen. Sie weichen Orten und Situationen aus, wo sie Mangel gespürt haben oder wo ihnen Schmerzen zugefügt wurden. Wo sie sich wohl fühlen, dort bleiben sie. Ein Beispiel: Rehe reagieren scheu auf Menschen, in denen sie einen Jäger vermuten. Ein bestimmtes Reh hat erlebt, dass ein anderes Reh im Verband durch einen Schuss verletzt und getötet wurde. Diese schlechte Erfahrung wird später auch von den erwachsenen an die jungen Tiere weitergegeben. Wenn die Rehe über lange Zeit erleben, dass von Menschen keine Gefahr ausgeht, z.B. entlang eines häufig begangenen Spazierweges in einem Erholungswald, wo die Jagd verboten ist, dann verlieren sie ihre Scheu und lassen den Beobachter relativ nah an sich herankommen.
Worauf will ich hinaus? Mir geht es um den fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Der besteht für mich nicht so sehr in der unterschiedlichen Fähigkeit zur Reflexion, sondern im Umgang mit der Angst. Was meine ich damit?
Ich will es an einem Mythos festmachen, denn in Mythen sind, wenn man sie richtig versteht, wichtige Lebenserfahrungen und Weltdeutungen unserer Ahnen enthalten. Aufschlussreich ist die biblische Erzählung von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Adam und Eva müssen den Garten, in dem sie sich bisher zufrieden und gefahrlos in Gemeinschaft mit allen anderen Lebewesen aufgehalten haben, verlassen, weil sie ungehorsam waren. Sie haben vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen, obwohl dies der einzige Baum im Garten war, dessen Früchte zu genießen ihnen Gott ausdrücklich verboten hatte. Sie werden – anders als die Tiere – aus dem Paradies ausgeschlossen. Sie und ihre Nachkommen müssen sich – als Strafe für ihren Ungehorsam gegen Gott – „im Schweiße ihres Angesichts“ in der harten und grausamen Welt durchschlagen.
Was ist in diesem Mythos mit Paradies gemeint? Es ist das Leben in Gemeinschaft mit Gott. Anders ausgedrückt: Es ist das Leben in einem geschlossenen Weltbild, in dem der Mensch genau weiß, was gut und böse, richtig und falsch ist (Gottes Wille, nachlesbar in den heiligen Büchern). Er lebt nach vorgegebenen Regeln, die er nicht in Zweifel zieht. Und in diesem Raum lebt er sicher und zufrieden. Er kennt keine Not und keine Gefahr und daher auch keine Angst. Er fühlt sich geborgen, weil er weiß: hier ist für mich gesorgt. Wir würden heue sagen: er hat ein Urvertrauen ins Leben.
So stelle ich mir die Bewusstseinslage von Tieren vor – jedenfalls in Situationen, in denen sie nicht aktuellen Mangel oder Schmerz erdulden müssen. Sie haben keine Angst vor drohenden Gefahren, weil sie kein „Organ“ für den Blick in die Zukunft haben – anders als wir Menschen, die wir immer mehr oder weniger gut begründete Vermutungen über die Zukunft anstellen.
Wir modernen Menschen haben vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen. Wir wollen uns selber die Regeln setzen, nach denen wir unser Leben führen. Wir dulden keine Autorität, die über dem Menschen steht. Wir erforschen, welche Möglichkeiten wir ergreifen können, um unser Leben in materieller Sicherheit und Bequemlichkeit gestalten zu können, und setzen diese technisch um. Und wir entwickeln und erproben die sittlichen Normen, deren Befolgung unser gesellschaftliches Miteinander für alle Menschen erträglich macht und Freiräume der persönlichen Lebensgestaltung sichert.
Der nicht-religiöse Mensch muss sich sein Vertrauen ins Leben also verdienen, indem er den Kampf um die knappen Ressourcen führt. Wenn er dabei versagt, gerät er in Not und Gefahr. Davor hat er Angst. Er kann sich auf keine „höhere Macht“ verlassen. Das geschenkte, nicht von der eigenen Leistungsfähigkeit abhängende Urvertrauen ins Leben haben nur die Tiere.
Der nicht-religiöse Mensch baut sein Selbstwertgefühl aus der Anerkennung durch seine Mitmenschen auf, muss es sich also mit seinen sozialverträglichen Eigenschaften und seinen Leistungen verdienen. Der gläubige Mensch „weiß sich von Gott angenommen und geliebt“, wie es so schön heißt. Und hier gibt es verschiedene Tendenzen unter den Gläubigen: die einen glauben an die bedingungslose Liebe Gottes, die anderen meinen, sich die Liebe Gottes durch „gottgefälliges“ Verhalten (z.B. gute Werke, Gebete…) verdienen zu müssen. Letztere sind zu bedauern. Sie leben in ständiger Angst, Gottes Zorn zu erregen und fürchten sich vor dem Fegefeuer, der Hölle und bereits im Diesseits erfolgende Strafen Gottes. Diese (in meinen Augen naiven) Gläubigen sind hinsichtlich ihres Umgangs mit Angst noch schlechter dran als nicht-gläubige Menschen, auch schlechter dran als Tiere.
Noch eine allgemeine Aussage über den Unterschied von Mensch und Tier lese ich aus dem biblischen Mythos der Schöpfungsgeschichte: Der Mensch hat zwar sein Einssein mit Gott (seine Geborgenheit ins Vorgegebene, sein Urvertrauen) verloren, indem er seine Selbständigkeit im Denken und seine Freiheit im Tun gewonnen hat, er hat jedoch das Gedächtnis an das „Paradies“ nicht verloren. Hier geht es um den bewussten Umgang mit der Zukunft, wozu Tiere nicht in der Lage sind. Der Mensch hat eine Vorstellung von dem, wonach er sich sehnt: nach Frieden, nach Gemeinschaft mit anderen Wesen (mit Menschen, Tieren, mit der Natur), nach Anerkennung und materieller Sorglosigkeit. Und diese Sehnsucht spiegelt sich in allen politischen Bewegungen, die eine „bessere Welt“ anstreben (siehe meine Überlegungen zu einer linken Utopie Dem.22).
In Beitrag 7 bin ich auf den Unterschied zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Menschen näher eingegangen. Das muss ich hier nicht wiederholen. Hier geht es mir um die spezielle Haltung des gläubigen Menschen zu harten Schicksalsschlägen. Wie steht er zu schrecklichen Ereignissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Ich behaupte: er (ich meine den Gläubigen, der auf die bedingungslose Liebe Gottes setzt) kann besser damit umgehen als der nicht-gläubige Mensch, auch besser als der oben erwähnte Typ von gläubigem Menschen, der meint, sich Gottes Liebe verdienen zu müssen. Der auf Gottes Liebe Vertrauende hat weniger Angst. Denn er führt alle guten und schlechten Ereignisse in seinem Leben auf einen höheren Willen zurück (Motto: „Gott will es so, weil er einen Plan mit mir hat“). Und von diesem Gott weiß er, dass er es gut mit ihm meint, auch wenn der Mensch mit seinem begrenzten Erkenntnisvermögen diesen Willen nie begreifen kann.
Dieses „Wissen“ von der Liebe Gottes zu den Menschen ist kein empirisch beweisbares Wissen, sondern eine Gewissheit – letztlich einfach nur ein fester Glaube an eine „höhere Wirklichkeit“. Deshalb steht in der Bibel irgendwo ein Satz von Jesus: „In der Welt habt ihr Angst“. Ich weiß nicht, wie das Zitat weitergeht, aber sinngemäß sicherlich so: Wer an mich glaubt, braucht keine Angst zu haben.
Sucht nicht auch der moderne nicht-religiöse Mensch nach dem Gefühl der Geborgenheit? Die Soziale Marktwirtschaft will dem Menschen die Angst vor dem materiellen Absturz nehmen. Aber es gibt auch psychische Not, gegen die keine staatliche Institution etwas ausrichten kann. Sie kann allenfalls Hilfestellungen anbieten, indem sie Psychotherapien für jedermann ermöglicht. Ziel einer solchen Therapie ist es, die im Patienten angelegten (zurzeit verschütteten, gelähmten) Kräfte freizulegen, damit er sich in seine Gemeinschaft wieder möglichst schmerzfrei eingliedern und sein Leben ohne irrationale Ängste gestalten kann. Der Psychotherapeut stärkt die Problembewältigungskompetenz des Patienten, wirft also den einzelnen Menschen letztlich auf sich selbst zurück.
Die skizzierte Haltung des gläubigen Menschen, der seine Angst „mit Gottes Hilfe“ bewältigt, zieht naturgemäß den Spott (zumindest das Unverständnis) aller der Menschen auf sich, die über keine „spirituelle Antenne“ verfügen und davon überzeugt sind, dass sich alle Dinge und Zusammenhänge, die für uns heute noch Geheimnisse sind, früher oder später mit Hilfe der Wissenschaft rational erklären lassen.
Ich vermute, die meisten Menschen interessieren sich entweder überhaupt nicht für religiöse Fragen, weil für sie die Lebensbewältigung eine bloß praktische Dimension hat, oder sie „basteln“ sich eine Vorstellung von Gott (von einer überirdischen Kraft) aus verschiedenen Religionen und esoterischen Vorstellungen zusammen.
Die ausschließlich auf die Ratio vertrauenden Spötter sind nur eine sehr kleine Minderheit von Intellektuellen. Sie beherrschen allerdings den öffentlichen Diskurs, weil sie über eine besonders gut entwickelte Fähigkeit verfügen: sie können sich schriftlich und mündlich sehr gut ausdrücken. Ihre Überlegenheit ziehen sie daraus, dass sie in der öffentlichen Debatte ihre rationalen Argumente empirisch und logisch begründen können. Auf eine solche Begründung muss eine auf spirituelle Empfindungen beruhende Argumentation verzichten. Sie ist nicht rational nachvollziehbar. Um verstanden zu werden, setzt sie einen Zuhörer mit „spiritueller Antenne“ und Erfahrung voraus. zum Inhaltsverzeichnis
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