Meine Großeltern waren noch der Meinung, Neugierde und Eigensinn seien schlechte Eigenschaften eines Kindes. Mittels Erziehung müsse den Kindern diese Eigenschaften ausgetrieben werden. Mit dieser Haltung repräsentierten meine Großeltern ihre Generation und die Generationen davor.
Woraus speiste sich diese Haltung? Aus der religiösen Überzeugung, der Mensch dürfe durch Neugier an den Geheimnissen Gottes nicht rühren und dürfe sich mit eigenem Willen weder dem Willen Gottes noch dem Willen derer widersetzen, die von Gott als Autoritäten eingesetzt worden seien. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein waren Adel und Klerus bekanntlich davon überzeugt, ihre Macht sei ihnen von Gott verliehen – und was das Schlimmste ist: die bevormundeten und beherrschten Menschen glaubten ihnen das (abgesehen von einigen kritischen Geistern, die sofort mundtot gemacht wurden).
Heute haben wir religiöse und ideologische Denkverbote glücklicherweise weitgehend abgeschüttelt, zumindest in der „westlichen Welt“. Wir leben in der Moderne, wie man so schön sagt. Heute werden Neugier und Eigensinn bei Kindern und Erwachsenen als positive Eigenschaften gesehen und gepflegt. Ich sehe in diesem Schwenk die entscheidende Neuerung, die uns zu modernen Menschen macht.
Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zur Neugier anstellen.
Die Veränderung des Wortverständnisses von Neugier lässt sich an der Betonung ablesen: früher lag sie auf der zweiten Silbe, heute auf der ersten. „Neu“ hat einen positiven, „Gier“ einen negativen Klang.
Was verstehen wir unter „Neugier“? Auch heute noch schillert das Wort. Wenn ich unbedingt Dinge zum Beispiel über meinen Nachbarn wissen will, die mich nichts angehen, dann ist Neugier eine Untugend. Wenn ich nach neuen Erkenntnissen in der Forschung oder als Orientierungshilfe für mein eigenes Leben suche, dann verstehe ich Neugier als Durst nach Wissen und als Aufgeschlossenheit für Neues. Ob wir neugierig im positiven oder negativen Sinne sind, hängt also davon ab, worauf sich unser Streben nach neuen Informationen bezieht.
Anders ausgedrückt: die Tugend, aktiv nach neuen Informationen zu suchen, wird zur Untugend, wenn diese Informationen uns selbst nicht weiter bringen oder sich sogar für uns und andere Menschen schädlich auswirken. Beim Ausspionieren intimer Informationen stößt unsere Neugierige an Grenzen des Anstandes oder wir machen uns mit ihr sogar strafbar. Wer seine Neugier nicht beherrscht und sich zuschütten lässt mit unnützem Informationsmüll, schädigt sich selbst, weil dann seine Aufnahmekapazität erschöpft ist und nicht mehr offen für Informationen, die für ihn nützlicher oder auf andere Weise sinnvoller sind als dieser Schrott.
Hier berühren wir auch das Thema Datenschutz. Welche Informationen sollten allgemein zugänglich sein und welche nicht? Die Banken nutzen bekanntlich den Datenschutz dazu, die Steuerhinterzieher zu schützen. Und der einzelne Mensch möchte Informationen über sich (seine Privatsphäre) vor den Augen und Ohren anderer schützen, weil er selbst bestimmen will, wem er Einblick in seine Gedanken und Verhaltensweisen gewähren will und wem nicht.
Wir leben in einer Zeit des Übermaßes an Informationsangeboten. Sie stürmen auf uns ein. Mit raffinierten Mitteln versuchen die Medien, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie stacheln unsere Neugier an. Wir sollen unsere von Natur aus beschränkte Kapazität, Informationen aufzunehmen, für sie öffnen, uns ihnen zuwenden und ihre Nachrichten aufnehmen, die sie uns mit bestimmter Absicht übermitteln.
Welche Informationen für uns nützlich sind, können wir nur selbst beurteilen. Und hier beginnt das Problem. Wir lassen uns von Werbung umgarnen, weil wir die schönen Bilder und die netten Botschaften gerne sehen und hören. Ist Werbung nicht einfach nur gut verpackte Information, die wir brauchen, um unter den Konsumangeboten besser auswählen zu können? Und wenn die Verpackung mehr verspricht als drin ist und wir darauf reinfallen, dann lernen wir daraus und sind beim nächsten Mal klüger.
Und als Teilnehmer von facebook nehmen wir Informationen unserer „Freunde“ auf und versenden Informationen über uns selbst, die in den meisten Fällen zwar im engeren Sinn keinen Nutzen abwerfen, die uns jedoch interessieren, weil wir gern wissen, welche Neuigkeiten es in unserem weiten Bekanntenkreis gibt. Auch wenn wir uns im persönlichen Gespräch mit anderen Menschen austauschen, geht es weniger um nützliche Informationen, sondern um einen Austausch von Gedanken und Gefühlen – um Kommunikation als Ausdruck von Nähe und Beziehungspflege zwischen Menschen. Das ist nützlich für uns im weiteren Sinn.
Was der eine als lästiges und unnützes „Zuschütten mit Informationen“ empfindet, ist für den anderen unterhaltsam. Auch wenn die aufgenommenen Informationen nur der Zerstreuung dienen und den Konsumenten von eigenständigem Denken, Fühlen und Tun ablenken, ist das nicht zu verurteilen. Es ist Sache des Einzelnen, wie er sich zur „Überflutung durch Informationsreize“ stellt. Er muss selbst entscheiden, was ihm guttut und was nicht. Dazu weiter unten mehr.
Neugier kann, muss aber nicht mit kritischem Denken verbunden sein. Der neugierige und zugleich (selbst)kritische Mensch will wissen, was in der Welt läuft und warum es so läuft, wie es läuft. Er fragt nach dem Wie und Warum. Er gibt sich nicht mit vorgefertigten Denkmustern und nicht hinterfragbaren Antworten zufrieden.
Die Neugier als Eigenschaft, nützliche Informationen zu sammeln, hat stammesgeschichtliche Wurzeln. Ohne sie hätten unsere Urahnen nicht herauszufinden können, was für sie essbar und was giftig ist, wie sie sich Behausungen bauen und wetterfest kleiden können, um zu überleben. Alle über Versuch und Irrtum gefundenen Neuerungen bis hin zur Mondfahrt und zur neuesten Haustechnik sind ohne diese kritische Neugier nicht denkbar.
Die Haltung der kritischen Neugier ist nicht selbstverständlich. Sie muss gepflegt werden – genauer: die angeborene Neugier darf dem Kind im Elternhaus und in der Schule nicht genommen werden. Sie braucht Raum, sich zu entfalten, sie braucht Anregungen und Herausforderungen, reagiert empfindlich auf Verbote und Einschränkungen. Unsere Schulen haben nicht mehr, wie früher, die Aufgabe, gehorsame und gläubige Untertanen heranzuziehen, die nach Anweisung funktionieren. Sie müssen heute aus den Kindern mündige Bürger machen: Bürger, die Fragen stellen und sich eigenständige Gedanken machen.
Dass wir von diesem Ideal noch sehr weit entfernt sind, brauche ich nicht zu betonen. In unseren Schulen sind diejenigen Schüler am erfolgreichsten, die ein gutes Gedächtnis haben und die vorgegebenen Antworten gut wiederkäuen können. Selbständiges Denken wird nicht belohnt. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die forschende Psychologin Susan Engel hat Kinder im Laufe der Schulzeit hinsichtlich der Veränderung ihrer Neugier beobachtet. Neugier zeigt sich im Frageverhalten. In den ersten Klassen meldeten sich die Schüler durchschnittlich zwanzig Mal in einer Unterrichtsstunde, um Zwischenfragen zu stellen. In den fünften Klassen wurden nur noch zwei Fragen gestellt, obwohl inzwischen der Stoff wesentlich angewachsen war und bei den Kindern entsprechend mehr Fragen hervorrufen müsste. Die Forscherin deutet diesen Befund: Durch jahrelanges Abhandeln vorgefertigter Lehrpläne seien die Kinder so abgestumpft, dass sie sich das Nachfragen abgewöhnt haben.
Wir Erwachsenen sollten uns kritisch fragen, ob wir uns nicht oft aus purer Bequemlichkeit der Informationsflut aussetzen – und dadurch ganz gegen den eigenen Willen abstumpfen. Ein möglicher Einwand: wir müssen abstumpfen, um die vielen schlimmen Nachrichten ertragen zu können.
Wenden wir den Blick von der persönlichen auf die gesellschaftliche Ebene, dann stellt sich die Frage: wie wichtig ist Neugierde für den gesellschaftlichen Fortschritt?
In unserer sog. „Wissensgesellschaft“ ist Neugierde die wichtigste Tugend in der Forschung. Wer von Neugier getrieben ist, dem macht das Forschen Spaß – vergleichbar einem Jagdhund, der nach Spuren sucht und ihnen folgt, um die Beute zu finden. Jagdhunde folgen ihrem Instinkt und sind beim Aufspüren freudig erregt. Sie müssen nicht zum Jagen getragen werden. Auch ein Forscher lässt sich gern von seiner Neugier leiten. Kreative Köpfe finden über ihre Neugier immer neue Wege, aufgeworfene Fragen zu lösen.
Kritische Neugier wird in unseren Universitäten nicht gefördert, sondern gehemmt. Die Hoschulausbildung ist verschult. Es werden Sachverhalte, Theorien und Methoden vermittelt – und das unter Zeitdruck. Das Fragen und Zweifeln wird nicht gelernt und geübt. Diskussionen finden nicht mehr statt. Die Studenten müssen bei ihren Prüfungen abfragbares und mit Noten zu bewertendes Wissen von sich geben können.
In den Geisteswissenschaften bilden sich in den einzelnen Fächern Autoritäten heraus, die den mainstream repräsentieren – und damit den „Stand des Wissens“. Wer diesen Autoritäten als Student widerspricht – und seien die kritischen Argumente noch so gut begründet – der muss fürchten, die Prüfungen nicht oder nur mit schlechten Noten zu bestehen. Ohne Neugier und ohne das mit ihr einhergehende kritische Denken stirbt über kurz oder lang jede Wissenschaft ab und wird zur Wissensruine.
Die Neugier – ob im privaten oder im beruflichen Umfeld – hat jedoch auch eine Kehrseite. Sie kommt zum Vorschein, wenn Neugier zum Selbstzweck wird. Ich denke hier an die Sucht nach Informationen um der Informationen willen. Wenn wir nach dem Neuen gieren, ohne dieses Neue verarbeiten zu wollen. Unser Bedürfnis nach Informationen ufert aus, wenn wir die Informationsflut als solche genießen, uns von ihr forttragen lassen, um unsere Nerven zu kitzeln und die innere Leere und Langeweile damit zu übertönen.
Jeder von uns kennt diese Situationen. Wir lieben diesen Kitzel. Wir wollen der Langeweile entgehen, wollen uns mit Informationen zudröhnen, fühlen uns wohl dabei – und erst später überkommt uns gelegentlich das fade Gefühl sinnlos verbrauchter Zeit.
Über die alten und neuen Medien, über Werbung auf der Straße und überall werden wir mit Mini-Informationen berieselt, die zwar tausendfach und kurz unsere Aufmerksamkeit binden, die uns jedoch in keiner Weise befriedigen, weil sie nichts bieten, was unser Denken länger beschäftigt und unsere kreativen Fähigkeiten herausfordert. Sie tragen nichts zu unserer Orientierung bei. Sie halten uns in ständiger Alarmbereitschaft – aber unsere Nerven reagieren auf Informationen, die keine „Nahrung“, sondern lediglich fastfood bieten.
Unsere Gier nach diesen permanenten Mini-Reizen führt zu einer Übersättigung, die unsere Neugier auf solche Neuigkeiten abtötet, die für uns wichtig sind. Manchmal sind wir von der Angst getrieben, etwas zu verpassen. Zugeschüttet mit Informationen verpassen wir vielleicht gerade das, worauf es uns eigentlich ankommt.
Einen anderen Zugang zum Thema Neugier findet der Philosoph Markus Gabriel. Er erklärt das starkes Bedürfnis des modernen Menschen nach immer mehr Wissen mit seinem Leiden an der Offenheit unserer Welt – im Unterschied zu früheren Zeiten, als sich die Menschen in ihrem religiös oder ideologisch geschlossenen Weltbild mühelos orientieren, einordnen und sicher fühlen konnten. Der moderne Mensch will die Lücken und Unsicherheiten, die sich aus der Offenheit der Welt ergeben, mit Informationen füllen beziehungsweise überbrücken, um die Offenheit der Welt aushalten zu können. „Das tägliche Sammeln von Informationen dient der Erzeugung von Sicherheit…Je mehr Feststellungen ich über die Welt da draußen treffe, desto stabiler scheint mir mein Bezug zur Welt.“
Ist diese philosophische Aussage banal, weil sie nichts anderes zum Ausdruck bringt als die einfache Erkenntnis: wir brauchen Wissen, um uns in der Welt orientieren zu können? Vielleicht wollte er mehr sagen, nämlich das, was ich ganz am Anfang geschrieben habe: früher – in einer „geschlossenen Welt“ der Religionen und Ideologieen – fühlte man sich sicher, weil die Antworten auf alle Fragen in den „heiligen Büchern“ (bzw. im „Kapital“ von Karl Marx) bereits nachzulesen waren.
Auf die Frage, warum es so schwer sei, die Neugier zu bremsen, antwortet der Philosoph: „Weil wir Angst haben. Vor dem Unbekannten. Das Tier kennt nur Furcht vor der konkreten Bedrohung. Der Mensch aber kennt auch die Angst, das vage Gefühl, da könnte irgendetwas Bedrohliches sein, das er noch nicht kennt. Im Gegensatz zum Tier versucht der Mensch, sich selbst und sein Verhältnis zur Welt zu definieren. Unsere Neugier zielt also immer darauf, die Angst vor der unkonkreten Bedrohung zu bekämpfen.“ (Zitate aus Süddeutsche Zeitung Magazin 27.3.2015).
Auch hier sagt er nicht wirklich etwas Neues: Wenn ich etwas nicht weiß, fühle ich mich leicht bedroht. Der Blitz aus heiterem Himmel macht Angst. Wenn ich jedoch weiß, wann und in welchen Situationen die Gefahr eines Blitzschlages droht und wie ich diesem Ereignis entgehen kann, dann lässt sich meine Angst leichter zügeln. zum Inhaltsverzeichnis
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