Wir Menschen kommen ohne Glauben nicht aus. Es fragt sich nur, woran wir glauben. Glauben wir nur das, was wir nicht wissen (weil die Wissenschaft noch nicht so weit ist) oder glauben wir an ein höheres Wesen, an eine universelle Kraft, an einen Gott?
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Frage, woran wir glauben, kann auch anders verstanden werden – im Sinne von: mein Glaube, wie die Welt ist und wie sie sein wird. Dieses Wortverständnis kommt zum Beispiel in folgendem Satz zum Ausdruck: „ich glaube, dass die Liebe stärker ist als der Hass“. Oder: „ich glaube, der Mensch ist des Menschen Wolf“. Oder: „ich glaube an die Wissenschaft“, ich glaube an die charakterliche Höherentwicklung des Menschen“, „an eine bessere Zukunft“. In solchen und ähnlichen Sätzen drücken sich Einschätzungen, Werthaltungen, vielleicht Hoffnung oder Pessimismus aus: eine grundsätzliche Weltsicht. Das verstehe ich in diesem Beitrag nicht unter Glauben.
Ich will hier darüber nachdenken, worin sich ein gläubiger Mensch von einem ungläubigen Menschen unterscheidet, was beide antreibt, was sie denken und glauben.
Es gibt sehr viele Menschen ohne „spirituelle Antenne“. Sie reagieren mit Unverständnis, Abneigung oder gar Spott auf Gedanken und Gefühle, die sich nicht auf reale Begebenheiten beziehen, sondern auf übersinnliche, transzendente, nicht rational erfassbare Dinge und Geschehnisse. Sie können nicht verstehen, was Menschen dazu bringt, an einen Gott zu glauben. Sie halten diesen „Gott“ für eine Einbildung, die nur eine Scheinsicherheit bietet.
Die Argumentation der Nicht-Gläubigen stützt sich auf Logik. Metaphysische Spekulationen langweilen sie. Sie nehmen die erfahrbare Wirklichkeit wie sie ist – im Abwehrkampf gegen ihre Zumutungen – und gestalten ihr reales Leben mehr oder weniger erfolgreich.
Umgekehrt können Menschen mit transzendenten Neigungen – seien diese nun von esoterischer oder religiöser Art – nicht nachvollziehen, wie ihre ungläubigen Mitmenschen ohne diese „Antenne für eine andere Wirklichkeit“ ein ruhiges, glückliches Leben führen können. Denn sie stecken ja in einer finsteren, „unerlösten“ Welt ohne Sinn, quasi ans Diesseitige gefesselt, den Ungerechtigkeiten und Bösartigkeiten der Mächtigen ausgeliefert – ohne Hoffnung auf eine andere, bessere Welt (allenfalls orientiert an wirklichkeitsfernen Utopien, dass der Mensch besser werde und die Welt irgendwann human gestalten könne). In den Augen der Gläubigen wenden die „Ungläubigen“ sich „anderen Göttern“ zu, indem sie Geld und Erfolg oder „sinnliche Genüsse“ als das Höchste „anbeten“.
Die Argumentation der Gläubigen stützt sich auf Intuition. Es sind Menschen, die sich weigern, die erfahrbare Wirklichkeit als die einzige anzuerkennen. Sie akzeptieren nicht die Realität als das Letztgültige: das Misstrauen zwischen den Menschen, den Hass, die Verachtung, die Geringschätzung, die Beherrschung der Schwachen durch die Starken, der Armen durch die Reichen, der Ohnmächtigen durch die Mächtigen. Sie beklagen die „transzendentale Obdachlosigkeit“ der Gesellschaft, in der sie leben.
Sie glauben an eine Welt, in der andere Gesetze (eine andere Ordnung) gelten: wo „das Lamm neben dem Löwen liegt“ (Bibel-Zitat), wo der Schwache vor dem Starken keine Angst haben muss, wo Vergebung und Liebe stärker sind als Vergeltung und Hass. Kurz: sie glauben, dass es neben der realen (wissenschaftlich beschreibbaren) Wirklichkeit noch eine „andere Wirklichkeit“ gibt, die „höher ist als alle Vernunft“ (Bibel-Zitat). Auch wenn sie diese „überweltliche“ Kraft, ihren Gott nicht verstehen können, vertrauen sie auf ihn und fühlen sich geborgen. Sie umschreiben ihre „höhere Ordnung“ mit den Stichworten „Glaube-Liebe-Hoffnung“. Sie bemühen sich, ihr Verhalten nach den Gesetzen dieser (geglaubten) Welt auszurichten und hoffen, dass so die (reale) Welt etwas freundlicher wird.
Der Glaube im hier skizzierten Sinn ist also etwas anderes als ein „für wahr Halten“, eine Spekulation, mit der Wissenslücken überbrückt werden sollen. Dieser Glaube kann nicht in einen Widerspruch zu Ergebnissen der Wissenschaft geraten. Denn es geht um unterschiedliche Dimensionen der Wirklichkeit: um die empirisch und statistisch erfassbare Wirklichkeit (auf der Basis von Naturgesetzen) auf der einen Seite und um die geglaubte Wirklichkeit (auf der Basis spiritueller Gesetze) auf der anderen Seite.
Da sich die Existenz eines Gottes, einer „höheren Ordnung“, weder beweisen noch wissenschaftlich ausschließen lässt, sind beide Personengruppen im weitesten Sinne Menschen, die glauben. Entweder sie glauben, dass es außerhalb der mit den Sinnen erfahrbaren und mit dem Verstand begreifbaren Wirklichkeit nichts gibt oder sie glauben, dass es da doch etwas gibt, mit dem sich eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung von einer übersinnlichen, „jenseitigen“ Macht oder Kraft verbinden lässt.
Ist der Mensch gut oder schlecht? In der Antwort auf diese Frage unterscheiden sich die christliche Lehre und die kommunistische Weltanschauung. Die Christen glauben, der Mensch sei von Grund auf böse und könne erst durch den Glauben davon „geheilt“ werden. Der Kommunist glaubt, der Mensch sei von Grund auf gut und nehme nur durch böse äußere Umstände – durch „die Verhältnisse“ – schlechte Eigenschaften an. Seien die Verhältnisse gut, dann werde (und verhalte sich) der Mensch auch gut. Und wenn – in der Übergangszeit – noch „bürgerliche Einflüsse“ in ihm stecken, müsse er umerzogen werden.
Ich meine, der Mensch neigt sowohl zu gutem als auch zu schlechtem Verhalten – und welche Neigungen die Oberhand gewinnen, hängt vor allem davon ab, wie er aufgewachsen ist (welche Bezugspersonen ihn wie geprägt haben) und ob er sich stark genug fühlt, um sich im Lebenskampf zu behaupten, ohne dem Anpassungsdruck nachzugeben, der ihn von der Realisierung seiner guten Absichten abhalten will (Beitrag 2).
Wer sich mit der Welt – so wie sie ist – nicht abfinden will und sich stattdessen selbst und die Welt zum Besseren verändern will, der kann das als Gläubiger und Nicht-Gläubiger gleichermaßen tun. Auch Menschen ohne religiösen Hintergrund hoffen, dass gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme die Oberhand gewinnen gegenüber den bösen Mächten, die scheinbar (empirisch gesehen) die Welt beherrschen. Hier stellt sich die Frage: haben sie es im Vergleich mit ihren gläubigen Mitkämpfern leichter oder schwerer, ihr menschenfreundliches Verhalten gegen starke Widerstände durchzuhalten? Sie vertrauen auf ihre Vernunft und auf moralische Maßstäbe und bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihren selbst gesetzten Ansprüchen nicht genügen. Letztlich stehen sie allein in ihrer Verantwortung vor sich selbst.
Die Gläubigen dagegen vertrauen weniger auf sich selbst als vielmehr auf die „von Gott gegebene Kraft“ in sich. Sie beten, dass ihnen diese Kraft erhalten bleibt und „bekennen ihre Sünde“, wenn sie versagt haben – in der Gewissheit, dass ihnen „vergeben“ wird. Das sind zwei unterschiedliche Denk- und Empfindungswelten – der eine findet sich besser in der einen, der andere in der anderen zurecht.
Die „Gläubigen an die Machbarkeit des Guten“ – unabhängig davon, ob sie religiös oder „weltlich“ motiviert sind – wirken gelegentlich naiv, gutgläubig, blauäugig-lebensfern im Vergleich zu Realisten, die sich allein um sich selbst und ihren materiellen Erfolg kümmern. Ihre Art und Weise, wie sich „Gutmenschen“ bei Interessengegensätzen verhalten, wirkt entsprechend gehemmt, skrupelbehaftet, defensiv. Und sie fallen leichter auf Betrügereien rein, weil sie in ihrer Naivität (weil sie von sich auf andere schließen) Lügen und böse Absichten schlecht durchschauen. Allerdings sollte diese lebensferne – besser: lebensuntüchtige – Haltung nicht als zwangsläufig mit dem „Engagement für das Gute“ verbunden gesehen werden. Das Gute anstreben und tun ist auch in sehr realistischer Weise möglich: in Kenntnis der Bosheiten und Tricks, mit denen zu rechnen ist. In der Bibel heißt es in diesem Sinne: „Seid klug wie die Schlangen“.
Zurück zum Vergleich der säkularen (von irrationalen „Gesetzen“ freien) mit der religiös gebundenen Welt:
Das höchste Prinzip des „aufgeklärten“, an keine anderen als an vom Menschen formulierte Gesetze gebundenen Menschen ist seine Freiheit und Selbstbestimmung. In der säkularen Welt – der Welt ohne Gott – steht es im freien Belieben jedes Menschen, wie er sich im Rahmen der geltenden Gesetze verhält: ob er sich die Freiheit nimmt, seine Mitmenschen zu belügen, auszubeuten, zu hintergehen, zu mobben…Er kann seine Freiheit zu Lasten anderer Menschen ausleben, so lange er keine Vorschriften verletzt (oder sich bei ihrer Verletzung nicht ertappen lässt). Um die Lücke zwischen Legalität und Legitimität zu füllen, kann er moralische Regeln befolgen. Wenn er sie verinnerlicht, machen sie ihm ein schlechtes Gewissen, wenn er sie verletzt. Kurz gesagt: Der Mensch ist die letzte Instanz – es gibt keine Autorität über ihm.
Demgegenüber unterwirft sich der religiös gläubige Mensch freiwillig einer Werteordnung, die sich auf einen Gott bezieht und aus „heiligen Büchern“ abgeleitet ist, die ihre „Heiligkeit“ damit begründen, dass in ihnen Zeugnisse von Menschen mit „direktem Draht nach oben“ dokumentiert sind. Bekanntlich wurde im Nahmen der großen Religionen schon unzählige Verbrechen begangen und auch heute noch wird bei entsprechender Interpretation der Texte grob gegen Grundprinzipien der Humanität verstoßen. Die „göttlichen Botschaften“ der Bibel, des Korans und anderer „heiliger Bücher“ können also sehr unterschiedlich verstanden werden. Sie können zu Mord anstiften, aber auch zum Frieden und zur Liebe.
Das Gefährliche am Glauben sind die Missverständnisse, denen Gläubige anheimfallen, wenn sie die Texte ihrer „heiligen Bücher“ nicht im Lichte ihrer Entstehungsgeschichte, also unkritisch lesen und interpretieren. Einige Beispiele für gefährliche Missdeutungen:
• Falsche Gewissheiten: Wenn sich eine der monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) bei der Auslegung ihrer „heiligen Schriften“ anmaßt, das allein gültige Verständnis vom göttlichen Willen zu besitzen. Das führt zu Intoleranz und Gewalt – also zum Gegenteil dessen, was der Gläubige eigentlich will und braucht.
• Gottesbild: alle drei Religionen kennen das Gebot: „Du sollst Dir kein Bild von Gott machen“. Wenn die jeweiligen Kirchen, um sich gegeneinander abzugrenzen, trotzdem Dogmen festlegen, dann befinden sie sich auf einem falschen Weg, der bereits zu Religionskriegen und zur Diskriminierung Andersgläubiger geführt hat.
• Der manipulierbare Gott: Gläubige neigen manchmal zu der Vorstellung, Gott müsste ihnen zur Hilfe eilen, wenn er im Gebet dazu aufgefordert wird. Er dürfe diese Bitte nur mit gutem Grund abschlagen: wenn er den Bittenden wegen seiner Sünden bestrafen und/ oder ihn erziehen will. Ein solches naives Gottesverständnis macht Gott zu einem Diener der eigenen Wünsche. (Der „himmlische Vater“ wird wie ein guter menschlicher Vater gesehen).
• Der Gott der Angst: Wenn unter Berufung auf bestimmte Textstellen mit „ewiger Verdammnis“, „Höllenqualen“, „Fegefeuer“ und ähnlichem Unsinn gedroht wird, wenn der Mensch nicht an Gott glaubt oder der Gläubige schwere Verfehlungen begeht, dann mag das zwar die Mitgliederzahl in der Kirche positiv beeinflussen, widerspricht jedoch fundamental der Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen.
• Der institutionalisierte Gott: Wenn die ursprünglich gute Idee, dass sich die Gläubigen regelmäßig treffen, um ihre „Erfahrungen mit Gott“ untereinander auszutauschen und sich dabei gegenseitig im Glauben zu stärken, pervertiert worden ist. Ich denke hier an solche Kirchen und ähnliche organisatorische Formen, bei denen die Gefahr besteht, dass der Glaube seine Lebendigkeit verliert und zum Ritual verkümmert. Der Gläubige wird zum Vereinsmitglied, weil es sich in dem jeweiligen Kulturkreis so gehört.
Diese fünf in meinen Augen wichtigsten (am weitesten verbreiteten) Fehlentwicklungen in der „Welt des Glaubens“ machen deutlich, wie schwer ein Glaube ist, der sich von groben Irrtümern frei macht.
Ich denke: im Verhalten ist ein Mensch, der sich mit seinen „inneren Wurzeln“ im Bereich der Transzendenz verortet hat, nicht zu unterscheiden von einem Menschen, der auf diese Transzendenz verzichtet (weil er dafür keine „Antenne“ hat) und sich nach besten Kräften bemüht, ein „guter Mensch“ zu sein, indem er moralische Regeln einhält. Er will „dem Menschen ein Mensch sein und nicht ein Wolf“ (Polt).
Ein solcher Mensch, der auf die „göttlichen Gesetze“ als Leitlinie verzichtet, vertraut allein auf seinen „inneren Kompass“ – wohl wissend, dass sein Gefühl für „richtig“ und „falsch“ sehr anfällig ist gegenüber dem herrschenden Zeitgeist.
Denn auch in der säkularen Welt hat es schon gefährliche Geistesströmungen gegeben. Ich denke an ideologische Fehlentwicklungen wie Nationalismus, Rassismus, engstirnigen Kommunismus, Feudalismus. Menschen, die sich mit einer dieser Strömungen identifizierten, folgten seinerzeit oft hohen Idealen und meinten, nur in Befolgung ihrer (heute als ideologisch entlarvten) Vorstellungen sei die eigene Gemeinschaft oder gar die Menschheit vor Abgründen zu retten.
Und wie steht es mit mir selbst? Glaube ich an Gott? Ja, das tue ich. Jedoch ist für mich Gott nicht das, was über ihn in den „heiligen Büchern“ und den aus ihnen abgeleiteten Dogmen der Religionen und Konfessionen festgeschrieben ist. Ich mache mir kein Bild von Gott – bis auf dieses: es ist eine Macht, die es mit dem Menschen gut meint, wenn auch in einer Art und Weise, die wir Menschen nie verstehen und erklären können. Gott ist für mich ein Wort für Leben. Auch das Leben ist ein unergründliches Geheimnis, wenn wir es jenseits seiner Oberfläche ergründen wollen. Das Leben = Gott ist Wille und Gesetz – höher als die menschliche Vernunft. „Dein Wille geschehe“ ist das angemessene Gebet. Wir sind als Menschen Gottes Geschöpfe (Geschöpfe des Lebens), die eine Würde haben, die in sich selbst begründet ist („Geschöpfe Gottes“, „Gott in uns“). Wir sind Gesetzen „des Lebens“ (dem göttlichen Willen) unterworfen, die (den) wir nur erahnen können. Wir Gläubigen ehren das Leben („gehorchen Gott“), indem wir nach Antworten suchen, wie wir dem Leben – den Menschen und allen Kreaturen – dienen können, und ziehen daraus praktische Schlüsse für unser Verhalten. zum Inhaltsverzeichnis
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