Wir genießen über unsere Sinne – das ist nichts Neues. Aber wir genießen auch über unseren Kopf, indem wir in unserer Phantasie Bilder entstehen lassen, uns an Töne oder Gerüche erinnern und – das ist wohl das Wichtigste: indem wir beim Denken Lust empfinden, wenn auch nicht bei jedem Denkvorgang. Ob über unsere Sinnesorgane – Augen, Ohren, Haut, Zunge und Nase – oder über unser Gehirn: jeder Mensch hat mindestens ein „Lustzentrum“, das bei ihm überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist. Wenn er dieses in geeigneter Weise reizt und durch Übung (Wiederholung des Reizes) zur Entfaltung bringt, findet er in ihnen eine dauerhafte Quelle des Wohlbefindens bis hin zum Glücksgefühl.
Über das Ohr genießen wir, indem wir Musik hören oder ein Instrument spielen. Über das Auge genießen wir, indem wir uns an Kunstwerken, am guten Design von Gegenständen und an schönen Menschen erfreuen. Über Zunge und Nase genießen wir, indem uns gut zubereitete Speisen und Getränke in gute Stimmung versetzen. Über die Haut genießen wir, wenn wir gestreichelt oder auf andere Weise angenehm berührt werden. Unseren Körper und alle Sinneseindrücke zugleich genießen wir, wenn wir als Spaziergänger oder Sportler in der freien Natur das Landschaftsbild wahrnehmen, die frische Luft einatmen, die Vogelstimmen hören und den Wind spüren. Und über unseren Kopf genießen wir, wenn wir forschen, Texte lesen oder schreiben und auf andere Weise unsere Gedanken in Bewegung versetzen.
In allen genannten Bereichen der Sinneslust gibt es „Spezialisten“, die ihren Genuss sogar mit einem Beruf verbinden, zum Beispiel Musiker, bildende Künstler/ Designer, Köche, Masseure, Landschaftsarchitekten und – was die Lust am Denken betrifft – zum Beispiel Philosophen/ Wissenschaftler/ Schriftsteller/ Journalisten.
Was wir gern tun, darin sind wir auch gut. Unser aller Leben könnte so schön sein, wenn jeder von uns seinen Lebensunterhalt mit Tätigkeiten verdienen könnte, die für ihn mit Genuss verbunden sind. Das ist natürlich viel verlangt. Vielleicht geht es auch eine Stufe bescheidener: die Arbeit sollte uns Befriedigung verschaffen. Beruf kommt schließlich von „Berufung“: wer einen Beruf ausübt, der sollte sich dazu berufen fühlen im Sinne von: „das ist mein Ding! Hier fühle ich mich wohl!“. Und noch eine Stufe bescheidener, aber immer noch wichtig: die Eignung für die Tätigkeit sollte vorhanden sein. Eignung bedeutet, dass man zur betreffenden Tätigkeit passt, sich also durch sie weder über- noch unterfordert fühlt.
Ob wir nun Genuss, Befriedigung oder nur Eignung bei unserem beruflichen Tun erwarten: immer kommt es darauf an, dass wir uns überhaupt über das Potenzial unserer Sinne und unseres Denkens im Klaren sind. Bezogen auf welche Sinneswahrnehmungen und welche Denkoperationen spüren wir unsere spezielle Ansprechbarkeit, Begabung, Neigung, Eignung?
Das herauszufinden ist, so meine ich, die wichtigste Funktion der Schule. Was soll und muss sie leisten? Lernen für das Leben bedeutet auch Vorbereitung auf berufliche Arbeit. Und zu dieser Vorbereitung gehört, dass alle Sinne und alle Weisen des eigenständigen Denkens in der Schule angesprochen, geübt und entwickelt werden müssen – zu dem Zweck, dass jeder Schüler seine speziellen Ansprechbarkeiten, Begabungen und Neigungen entdecken und sie vertiefen kann.
Die Schule sollte ihre Aufgabe also nicht darin sehen, die Schüler durch die Vermittlung von Fakten auf Leben und Beruf vorbereiten. Sie sollte stattdessen durch ein breitgefächertes Angebot, das die Sinne und das Denken der Schüler in verschiedener Weise anspricht, jeden Schüler in die Lage versetzen, herauszufinden, wo welche der angebotenen Aktivitäten und Wissensbereiche bei ihm Genuss, Befriedigung, Freude hervorruft. Wenn er das weiß, wird er sich in dieser Aktivität aus eigenem Antrieb weiterentwickeln wollen – ganz ohne Druck und Zwang.
Folgerung: unsere Schulen müssen anders werden. zum Inhaltsverzeichnis
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