In diesem Beitrag will ich auf die Bedrohung der Sozialen Marktwirtschaft durch die neoliberale Globalisierung aufmerksam machen, indem ich die Rückkehr des von Marx beschriebenen Kapitalismus nachzeichne.
Die Studentenrevolte der 1968er Jahre wagte sich an eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus und orientierte sich dabei vor allem an Karl Marx, der in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ die kapitalistische Wirtschaftsordnung analysiert hat – mit dem Ergebnis, dass diese Wirtschaftsordnung früher oder später an seinen Widersprüchen zugrunde gehen werde. Diese Widersprüche seien die unüberwindbaren Klassengegensätze zwischen dem Unternehmertum, das den abhängig Beschäftigten den ihnen zustehenden Lohn nur teilweise auszahle und die Differenz, den „Mehrwert“, in die eigene Tasche stecke. Der sich auf diese Weise anhäufende Reichtum werde vor allem in die Schaffung von privatem Eigentum an Kapital (Maschinen, Geräte…) gesteckt – in die Produktionsmittel, deren Nutzung die Macht der Kapitaleigner immer mehr verstärke und die Arbeiter in die Verelendung treibe. Denn die Beschäftigten seien total abhängig von den Arbeitsplätzen, die ihnen die Kapitaleigner mittels ihrer Investitionsentscheidungen anbieten oder verweigern können. Die Beschäftigten seien gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um überleben zu können. Sie seien also nicht frei. Frei sei nur der Kapitaleigner mit seiner Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die daran hängenden Arbeitsplätze. Der Unternehmer verfüge über hinreichende finanzielle Mittel und Sachgüter, die seine Unabhängigkeit vom Staat und seinen Wohlfahrtsleistungen gewährleisten. Der Staat hat in diesem System nur eine Aufgabe: das Recht auf Eigentum zu schützen und die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Die Vorhersage von Marx, die abhängig Beschäftigten würden verelenden, hat sich bisher nicht bestätigt – zumindest nicht in den Industrieländern. Bis in die siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als der Arbeitsmarkt durch einen Mangel an Arbeitskräften (also ungestillte Nachfrage danach) gekennzeichnet war, konnten Gewerkschaften die Kapitaleigner mit Streikandrohungen dazu bringen, die Löhne an die steigende Produktivität anzupassen. Das steigende Niveau der Arbeitseinkommen hatte einen relativ hohen Wohlstand für die breite Bevölkerung zur Folge.
Es entwickelte sich auch ein relativ gut ausgebauter Sozialstaat. Das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft war gefestigt. Die Wirtschaftsverbände mussten sich den von der Politik demokratisch beschlossenen Gesetzen fügen. Obwohl die Sozialgesetzgebung ihren Gewinn schmälerte, reichte die immer noch beachtliche Macht der Kapitaleigner nicht aus, um solche Gesetze verhindern zu können. Die Kapitaleigner konnten ihre Interessen nur so weit durchsetzen, wie es notwendig war, das Funktionieren der Wirtschaft zu sichern.
Auf diese Weise beruhigt verloren die Bürger in den vergangenen dreißig Jahren mehr und mehr ihr politisches Interesse und zogen sich in ihren privaten Wirkungskreis zurück. Die Wirtschaft sorgte für Wohlstand – zumindest in Deutschland. Die öffentliche Diskussion beschränkte sich nach der Wiedervereinigung auf das Zusammenwachsen der neuen mit den alten Bundesländern und auf Detailfragen wie etwa die Gestaltung der Renten- und Gesundheitspolitik. Die grundsätzlichen Fragen gerieten aus dem Blickfeld, etwa die Macht der Konzerne im Verhältnis zur Rolle demokratischer Politik auf nationaler und europäischer Ebene. Die vormals kritischen Teile der Zivilgesellschaft (die Sympathisanten und Aktiven der Studentenbewegung) verzichteten auf grundsätzliche Einwände gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem und erkauft sich so Wohlstand, soziale Ruhe und Ordnung. Radikale Kritik am „System“ war inzwischen verpönt. Im Feuilleton der Leitmedien sorgten die Anhänger der Postmoderne dafür, dass nicht mehr danach gefragt wurde, in welcher Gesellschaft wir leben und wie eine bessere Gesellschaft sein sollte. Der Widerspruch zwischen persönlicher Wunschvorstellung und objektiver Wirklichkeit wurde mit den Mitteln des Zynismus und der Ironie scheinbar aufgelöst.
In dieser Phase der politischen Abstinenz und der gesellschaftspolitischen Konformität vollzog sich jedoch – quasi hinter einem Vorhang der Unaufmerksamkeit – eine epochale Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftliche Globalisierung – die kaum merkliche, aber sehr wirksame Öffnung der Güter- und Finanzmärkte – veränderte fundamental die Geschäftsgrundlagen von Wirtschaft und Demokratie, ohne von der Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Liberalisierung des Handels (Freihandel nach Abbau von Zöllen und Kontingenten), Deregulierungen (Rücknahme sozialer Schutzgesetze) und Privatisierungen von Gemeinschaftsgütern wurden politisch durchgesetzt. Diese neuen Weichenstellungen ging einher mit dem Versprechen von mehr Wohlstand für alle, entpuppte sich jedoch allmählich als eine Entmachtung von Staat und Politik zugunsten der global agierenden Wirtschaftselite. Denn diese war nun nicht mehr an nationale Grenzen und die innerhalb dieser Grenzen geltenden Gesetze gebunden, sondern konnte ihr Kapital (ihre Investitionen, ihre Produktionsstätten) weltweit verschieben und orientierte sich dabei allein an den Gesetzen des freien Marktes.
Es entstand ein global ausgetragener Standortwettbewerb, bei dem sich das Kapital wie ein „scheues Reh“ dorthin bewegte, wo die Gewinnerwartungen am höchsten und die sozialen Auflagen am geringsten waren. Überall in Europa wuchs die Massenarbeitslosigkeit. Die „Soziale Marktwirtschaft“, die als sichere Errungenschaft galt, begann sich aufzulösen. Nur in Volkswirtschaften (zum Beispiel der deutschen), die sich im internationalen Vergleich als besonders wettbewerbsfähig erweisen, können einige wichtige soziale Standards bisher noch aufrecht erhalten werden – im Unterschied zu den Volkswirtschaften der südeuropäischen Staaten.
Sozusagen durch die Hintertür der neoliberalen Globalisierung hat sich inzwischen also eine marktradikale Wirtschaftsordnung in Szene gesetzt, für die sich jede soziale Rücksicht als „Klotz am Bein“ auswirkt – ein „Klotz“, der die global agierenden Unternehmen in ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit behindert. Die geringen Sozialstandards, niedrigen Steuern und Billiglöhne zum Beispiel der osteuropäischen und asiatischen Wirtschaftsstandorte müssen in den Industrieländern mit hohen Arbeitskosten und anspruchsvollen Sozialstandards durch einen entsprechenden Vorsprung in der Produktivität (im Ersatz von Arbeitskraft durch Kapitaleinsatz) ausgeglichen werden, wenn die Löhne und Gehältern und die Sozialstandards nicht drastisch gesenkt werden sollen. Eine steigende Produktivität bedeutet „Freisetzung“ von Arbeitskräften, die entweder arbeitslos werden oder schlecht bezahlte Stellen im Dienstleistungsbereich annehmen müssen. Weitere Arbeitslose (vor allem im Niedriglohnsektor) entstehen durch die Verlagerung von Produktionen und Arbeitsplätzen in „wirtschaftsfreundliche“ Standorte. Nur eine relativ kleine Gruppe von hoch spezialisierten Technikern, Ingenieuren und Beratern kann sich als Globalisierungsgewinner bezeichnen.
Wir reiben uns die Augen. Wenn wir sie öffnen, finden wir uns in einem „System“ wieder, das in erschreckendem Maße dem von Marx beschriebenen Kapitalismus gleicht. Der bisher sozial noch einigermaßen gezähmte Markt schüttelt seine sozialen Schranken ab, weil sie von den Unternehmen als „Fesseln“ empfunden werden. Der wirtschaftliche Darwinismus – die politisch nicht mehr zähmbare Macht des Finanzkapitals – beherrscht Europa und immer größere Teile der Welt. Und wir sind in diesem System gefangen. Denn wir sind als Gemeinwesen abhängig von der Gunst der Kapitaleigner, die nun weltweit die Regeln vorgeben. Wer nicht im Rattenrennen des Standortwettbewerbs mithalten kann, der verliert seinen Wohlstand und geht unter. Nicht mehr das zählt, was wir unter wünschenswerter Gesellschaft verstehen, sondern allein das zählt, was aus der Sicht des globalen Marktes vertretbar ist – was also die Wettbewerbsfähigkeit nicht bedroht, sondern fördert.
Die Wirtschaftselite (vertreten durch die Wirtschaftsverbände und die von ihnen abhängigen Wissenschaftler und Medienvertreter) können die demokratisch gewählte Regierung unter Druck setzen mit dem Argument: wir sind die Garanten des Wohlstands. Wenn ihr uns Steine in den Weg legt, dann schwindet der Wohlstand, was in der Bevölkerung für Unruhe sorgen wird und nicht nur die Wiederwahl der regierenden Parteien gefährdet, sondern auch radikale Kräfte aufsteigen lässt.
Aktuelles Beispiel ist das zurzeit diskutierte Freihandelsabkommens EU – USA (TTIP), auf dessen Durchsetzung die Wirtschaftselite beider Standorte dringt. Die USA, ein durch und durch marktradikaler Staat ohne soziale Hemmungen, und die EU, ein Staatenbund, der sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennt, sollen ihre Regeln des Wirtschaftens einander angleichen. Ungleiche Standards gelten als „Handelshemmnisse“. Bei Verabschiedung des Abkommens ist mit einer Absenkung europäischer Standards im Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz zu rechnen. Gegen ein demokratisch beschlossenes Gesetz, das Gewinnerwartungen schmälert, kann der davon betroffene Konzern den jeweiligen Staat vor geheim tagenden privaten Schiedsstellen auf Schadensersatz in Milliardenhöhe verklagen.
Die Regierung Merkel-Gabriel hat bereits unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass sie dieses Abkommen will. Sehenden Auges schwächt unsere Regierung damit die soziale Komponente unserer Marktwirtschaft. Damit verzichtet sie auf Demokratie auf den Politikfeldern, die bisher der Wirtschaft im Interesse des Gemeinwohls noch Zügel anlegen konnten. Die Regierung fügt sich willig in das Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik, um den Wohlstand zu erhalten. Die Wirtschaftselite kann diesen Wohlstand in Zeiten der neoliberalen Globalisierung jederzeit einem Standort entziehen, der sich den Regeln des ungezügelten Marktes (des Kapitalismus) widersetzt. Es fragt sich, wie lange die Bevölkerung hierbei mitspielen wird.
Im Beitrag Dem21. zeige ich am Beispiel der skandinavischen Länder, dass ein Ausstieg aus dem neoliberalen Rattenrennen möglich ist und ein gut ausgebauter Sozialstaat auch unter den Bedingungen des globalen Standortwettbewerbs aufrechterhalten werden kann. Das funktioniert jedoch nur in einem dezentral organisierten Staat: wenn die wichtigsten Dinge des (politischen) Lebens auf der Ebene der Kommunen verhandelt und beschlossen werden. Zurück zum Inhaltsverzeichnis
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