Der Kapitalismus bringt Wohlstand – so heißt es. Und auf den ersten Blick scheint das auch so zu sein. Denn im Vergleich zu den Zeiten der feudalen Herrscher und modernen Diktatoren mit Ständegesellschaft und Planwirtschaft ist der freie, ungezähmte Markt deutlich erfolgreicher.
Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen zur Attraktivität und zur Verwundbarkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anstellen und die Gefährdung sowohl dieser Ordnung als auch der Demokratie durch die neoliberale Globalisierung aufzeigen.
Es hat sich im Kapitalismus (in der Marktwirtschaft) eine Mittelschicht, ein selbstbewusstes Bürgertum, herausgebildet, das es versteht, die Wirtschaft voranzubringen. Dieses Bürgertum zeichnet sich durch einen gewissen Wohlstand aus, den es (in der Selbstwahnehmung) nicht dem Staat verdankt, sondern aus eigener Wirtschaftstätigkeit gewonnen hat. Diese selbstbewussten Menschen lassen sich nicht gern durch staatliche Institutionen bevormunden. Sie hängen der Vorstellung an, der Motor des gesellschaftlichen Getriebes zu sein. Sie sehen sich, um ein anderes beliebtes Bild zu zitieren, als Arbeitspferde, die den Karren ziehen und daher Futter und Pflege beanspruchen können, damit sie diese Leistung für den Bauern auch weiterhin erbringen können.
Anders als der Sozialismus mit seiner Planwirtschaft, in der Experten ohne Eigeninteresse (allein der Gesellschaft verpflichtet) darüber bestimmen, welche Güter und Dienstleistungen von wem für wen produziert und angeboten werden und wie hoch die Löhne und Preise zu sein haben, setzt der Kapitalismus auf den Markt: freie Unternehmer stellen ihr Angebot auf die Nachfrage ein und lassen sich dabei nicht vom Motiv leiten, dem Gemeinwohl zu dienen. Sie wollen möglichst hohe Gewinne erwirtschaften. Der Preis wird nicht von einer staatlichen Instanz festgelegt, sondern bildet sich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Ein Unternehmer muss sich diesem „Marktgesetzt“ unterwerfen, wenn er erfolgreich sein, also Gewinne erwirtschaften will.
Auf diese Weise haben es die Unternehmer geschafft, das Wirtschaftsgeschehen effizient zu organisieren (im Unterschied zur Planwirtschaft).
Der Unternehmer sind dabei auf drei notwendige „Hilfsmittel“ angewiesen: auf Menschen, auf Kapital und auf Ressourcen. Und hier kommt – quasi durch die Hintertür – der Staat ins Spiel: die Beschäftigten brauchen Erziehung und Bildung, wofür der Staat entsprechende Einrichtungen bereitstellt. Das Kapital (Maschinenausstattung) kann nur mit Hilfe von Wissenschaft und Technik auf dem neuesten Stand gebracht und gehalten werden. Der Staat ist für funktionierende Forschungseinrichtungen (Universiätäten etc.) verantwortlich als Basis für die Eigenforschung von Unternehmen. Der Zugang und die Gewinnung der natürlichen Ressourcen (die Fläche und Bodenschätze wie Öl und Metalle, Energie) müssen ebenfalls durch den Staat sichergestellt werden. Die Wirtschaft, die dem Markt gehorcht, und der Staat, der das Gemeinwohl zu hüten und zu vertreten hat, sind also eng miteinander verbunden und aufeinander angewiesen.
Ergebnis: die benötigten Güter und Dienstleistungen gibt es im Überfluss („Überflussgesellschaft “ im Unterschied zur „Mangelgesellschaft“). Es gibt zwar viele Menschen, die von diesem „Überfluss“ ausgeschlossen sind, weil sie entweder keine oder eine sehr schlecht bezahlte Arbeit haben, aber der Vorteil des Kapitalismus (der Marktwirtschaft) für alle anderen Menschen ist sehr groß: die materielle Sicherheit. Der Markt bedient alle bezahlbaren Bedürfnisse. Das klingt in den Ohren der armen Länder schon fast nach Schlaraffenland.
Wer vom Staat nichts anderes erwartet als dass er für eine funktionierende Wirtschaft sorgt, die ein materiell abgesichertes Leben gewährleistet, der ist mit unserer Ausprägung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zufrieden – trotz aller Kritik an Einzelheiten. Daher, so denke ich, wird von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung der Vorrang (das Primat) der Wirtschaft vor der Politik akzeptiert.
Die Akzeptanz ist jedoch kein Ruhekissen, auf dem sich die Demokratie ausruhen kann. Denn die zunächst erfolgreich in Gang gesetzte „Wohlstandsmaschine“ ist in den vergangenen dreißig Jahren ins Stottern geraten. Sie scheitert an zwei Problemen, die immer größer werden: das soziale Problem und das ökologische Problem.
Das soziale Problem besteht in der Unfähigkeit des freien Marktes, zu verhindern, dass sich der erwirtschaftete Reichtum auf eine immer kleinere Gruppe von Personen konzentriert, während eine stetig wachsende Mehrheit der Bevölkerung trotz steigender Produktivität vom Zuwachs ausgeschlossen bleibt. Der Zuwachs an Reichtum fließt allein in die Taschen der Kapitaleigner. Die weltweit agierende Wirtschaftselite ist selbst beim besten Willen (der durchaus angezweifelt werden kann) nicht in der Lage, dieses Verteilungsproblem zu lösen, weil es durch den globalen Standortwettbewerb daran gehindert wird.
Die Unternehmer sind selbst Gefangene der marktwirtschaftliche Eigendynamik: sie müssen sich im weltweiten Preiskampf behaupten. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, sind sie, um die Arbeitskosten zu senken, zum Einsatz von immer effektiveren Maschinen und Apparaten gezwungen. Das Ergebnis dieser Eigendynamik des globalen Marktes und des damit zusammenhängenden Standortwettbewerbs zeigt sich in immer mehr Ländern der Welt: Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse für immer größere Teile der Bevölkerung.
Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass immer mehr Güter und Dienstleistungen erzeugt und angeboten werden, jedoch immer weniger Menschen ökonomisch in der Lage ist, auf dieses Angebot mit einer entsprechenden Nachfrage zu reagieren. Immer mehr Menschen werden vom Wohlstand ausgeschlossen, obwohl sie hart arbeiten oder sich – wenn ihnen das verwehrt ist – nach Kräften um Arbeit bemühen. Obwohl also der bestehende Stand von Wissenschaft und Technik theoretisch die Möglichkeit bietet, allen Menschen auf der Welt alle notwendigen Güter und Dienstleistungen zukommen zu lassen, wächst wegen der nicht gelösten Verteilungsfrage die Angst und der Stress von immer mehr Menschen, die fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und in Armut zu versinken.
Das ökologische Problem besteht neben der ständig steigenden Umweltverschmutzung und dem unaufhaltsamen Artensterben vor allem im Klimawandel. Die im Zusammenhang mit der sozialen Problematik beschriebene zwanghafte kapitalistische Wachstumsdynamik in Verbindung mit dem globalen Standortwettbewerb verhindert weltweite Vereinbarungen zur drastischen Verringerung des Ausstoßes klimaschädlicher Gase. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der durchschnittliche Temperaturanstieg von mehr als drei Grad zu gigantischen Überschwemmungen führen – mit der Folge, dass der Lebensraum von Milliarden von Menschen von Vernichtung bedroht ist.
In Deutschland, in den skandinavischen Ländern und in der Schweiz ist das Problem der sozialen Spaltung kaum spürbar. Das liegt daran, dass diese Länder eine deutlich überdurchschnittliche Wettbewerbsfähigkeit aufweisen und sich wegen dieses Vorsprungs noch Gesetze des sozialen Ausgleichs leisten können. Allerdings geht dieser Vorsprung zu Lasten der weniger wettbewerbsfähigen Länder, die im globalen Rattenrennen nicht mithalten können. Der globale Standortwettbewerb ist ein Nullsummenspiel: was der eine gewinnt, verliert der andere. Der Traum der neoliberalen Theoretiker, dass durch den ungezügelten Markt Wohlstand in der ganzen Welt entsteht, ist ausgeträumt. Überall in der Welt konzentriert sich der Reichtum bei einer kleinen Personengruppe und führt zur Verarmung der Bevölkerungsmehrheit.
In den Jahren vor der Wende zur neoliberalen Globalisierung – also bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – hat der sozial gebändigte Kapitalismus noch funktioniert. Es war bis dahin noch möglich, der Wirtschaft politisch einen Ordnungsrahmen vorzugeben, an den sie sich halten musste. Dieser dritte Weg zwischen Raubtierkapitalismus und Planwirtschaft nennen wir „Soziale Marktwirtschaft“. Diese setzt jedoch voraus, dass die Unternehmen den demokratisch beschlossenen Gesetzen unterworfen sind und nicht mit ihrer Produktion und ihren Investitionen in „wirtschaftsfreundlichere“ Standorte ausweichen können.
Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist nun in die Defensive geraten und wird immer mehr aufgelöst, weil sozial und ökologisch motivierte Gesetze die globale Wettbewerbsfähigkeit schwächen. Die neoliberale Globalisierung versperrt den dritten Weg. Die geöffneten Güter- und Finanzmärkte haben ihren Ordnungsrahmen gesprengt. Weil sie nicht mehr durch Zölle, Kontingente und Kapitalverkehrskontrollen lenkbar sind, können die Märkte nun ihre politisch unbeherrschbare Eigendynamik auf fatale Weise entfalten.
Die Wohlstandsmaschine, die sich von der Sozialen Marktwirtschaft „befreit“, dreht durch. Sie schafft mehr Probleme als Lösungen. Der große Reichtum der wenigen Globalisierungsgewinner kann die Weiterführung dieser kaputten Maschine nicht rechtfertigen. Die Eigendynamik des Marktes erinnert an das Märchen vom Lehrling, der den ausgesprochenen Zauber nicht mehr widerrufen kann. Der zunächst erwünschte Brei schwillt an und droht den Lehrling zu ersticken, weil er den Gegenzauber nicht kennt.
Angesichts der demokratisch nicht mehr beherrschbaren Eigendynamik des Kapitalismus fragen wir uns: Wie können der aus der Kontrolle geratene, zwanghafte Wettbewerb und das grenzenlose Wachstum gezügelt werden? Mit anderen Worten: wie lässt sich das Primat der Politik über die Wirtschafsdynamik wieder herstellen?
Meine Antwort: das geht nur, indem den Märkten wieder ein Ordnungsrahmen gegeben wird, an den sie gebunden sind. Das funktioniert weltweit nur in sehr großen Staaten (wie die USA oder China) und in Großregionen wie etwas Europa und Südamerika (wenn es diese Regionen als politisch geregelte Wirtschaftsräume geben würde). Sehr große Binnenmärkte geben den Regierungen der großen Staaten und Großregionen eine hinreichende Macht, den Konzernen Regeln vorzugeben, an die sie sich halten müssen (Beitrag Dem12).
Ein Beispiel in dieser Hinsicht sind die USA. Sie haben global agierenden Konzernen schon mehrmals zu verstehen gegeben (zuletzt den Schweizer Großbanken, die zur Aufgabe des Bankgeheimnisses gezwungen wurden), dass sie sich an bestimmte in den USA geltende Gesetze halten müssen, wenn sie schmerzhafte Strafmaßnahmen vermeiden wollen.
So weit ist Europa noch nicht. Die Europäische Union ist ein sehr lockerer Verbund von Einzelstaaten. Jeder von ihnen ist von den globalen Märkten (vor allem den Finanzmärkten) total abhängig. Die Staaten haben ihre wirtschaftliche Souveränität verloren. Um diese zu gewinnen, müssen noch große Schritte zur weiteren Einigung der europäischen Staaten unternommen werden.
Noch sind die einzelnen Staaten innerhalb der EU und des Euro-Verbunds mehr oder weniger als Einzelkämpfer unterwegs. Sie lassen sich von der globalen Wirtschaftselite – von den Investoren und den Finanzmärkten – leicht gegeneinander ausspielen. Sie konkurrieren gegeneinander um Investoren im Rahmen eines harten Standortwettbewerbs, indem sie zum Beispiel Steuerdumping betreiben oder Unternehmen mit niedrigeren Sozialstandards und sonstigen Vergünstigungen von den weniger wirtschaftfreundlichen Standorten abwerben.
Der Übergang der Einzelstaaten in ein gemeinsames Europa muss noch große Hürden nehmen. Eine stärkere Integration ist unverzichtbar. Denn anders kann Europa gegenüber den global agierenden Konzernen keine politische Souveränität erlangen.
Warum ist die Einigung so schwer? Jedes Land hat seine eigene Tradition und seine Bevölkerung pflegt ihr jeweiliges Nationalgefühl. Ein europäisches Wir-Gefühl ist bisher extrem schwach ausgebildet, was sich gerade jetzt, wo es ums Geld geht, besonders deutlich zeigt. Ein integriertes Europa setzt voraus, dass die Mitgliedsländer wichtige Kompetenzen an die europäische Ebene abgeben, insbesondere zentrale Aufgaben der Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie der Sozial- und Umweltpolitik.
Um als gemeinsamer Wirtschaftsraum agieren zu können, zum Beispiel mit dem Euro als gemeinsamer Währung, müssen die Mitgliedsländer hinsichtlich der Wirtschaftskraft ein vergleichbares Niveau aufweisen. Denn sonst entsteht böses Blut, wenn die Steuerzahler des einen Landes die Bevölkerung eines wirtschaftlich schwachen Landes unterstützen sollen. Das erleben wir zurzeit im Verhältnis der europäischen Staaten zu ihrem Sorgenkind Griechenland. Es soll aus eigener Kraft und unter eigener Verantwortung aus seiner schwierigen Lage herausfinden – wenn auch mit Unterstützung der anderen Länder.
Die Staaten haben vereinbart, dass jeder Staat in der Euro-Zone für seine Fehler selbst verantwortlich ist. Die Mitgliedsstaaten sollen nicht für einen von ihnen haften, schlecht gewirtschaftet hat und deshalb in Schwierigkeiten geraten ist. Das besagt die „no bail out“ – Klausel im Vertrag, den die Staaten unterschrieben haben, als sie sich zur Euro-Zone zusammengeschlossen haben.
Das war, wie wir heute wissen, ein vorschneller Schritt. Denn die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen gemeinsamen Währungsraum waren nicht erfüllt. Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen: Griechenland kann sich nicht mehr selber helfen. Die Mitgliedsländer müssen helfen, ob sie wollen oder nicht, um ein Auseinanderfallen der Eurozone zu verhindern, was die Integration Europas über viele Jahre hinweg verzögern würde.
Die weitere Integration, wann immer sie erfolgt, ist wie gesagt unverzichtbar. Nur so kann ein Abgleiten in den menschenfeindlichen Kapitalismus, wie wir ihn aus den USA kennen, unterbleiben. Nur wenn in einem „sozialen Europa“ die Soziale Marktwirtschaft erhalten und wieder gestärkt wird, kann aus der kaputten Wohlstandsmaschine ein demokratisches Gemeinwesen werden, in dem die Wirtschaft eine dienende und keine beherrschende Rolle spielt.
Im folgenden Beitrag Dem.21.- werde ich darlegen, dass nur ein dezentrales Europa wünschenswert ist – ein Europa, in dem die wichtigsten Angelegenheiten der Bürger auf der kommunalen Ebene geregelt werden. Denn ein zentral organisiertes Europa wird von abgehobenen Expertengruppen beherrscht, was ganz zu Recht das Misstrauen der Bürger erregt und der demokratischen Idee widerpricht. Demokratie braucht das Interesse und das Engagement der Bürgers – und dieses ist nur auf der kommunalen Ebene zu erwarten, wenn der Bürger über das entscheiden kann, was ihn wirklich berührt.
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