Politiker müssen Wähler mit Argumenten für sich gewinnen. Die Stammwählerschaft der wichtigsten Parteien SPD, CDU/CSU, GRÜNE und LINKE schwindet bekanntlich immer mehr. Denn heutzutage unterscheiden sich – im Unterschied zur Nachkriegszeit bis in die 1980iger Jahre – die bestimmenden Parteien voneinander nicht mehr fundamental in ihrer Gesellschaftsvorstellung und den daraus abgeleiteten Handlungsmaximen, sondern nur noch tendenziell in ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Bereitschaft zur Regulierung von Marktprozessen. Das kann bei pragmatischen Einzelfragen zu durchaus wichtigen Differenzen führen. Es kommt im politischen Meinungskampf also nicht mehr auf ideologische Grundhaltungen an, sondern auf die Gründe und Argumente, mit denen sich die Parteien in den verschiedenen Politikfeldern praxisorientiert positionieren.
Dies wirkt sich stark auf den notwendigen Umfang des Wissens aus – beim politisch Aktiven wie auch beim Wähler. Wer politisch mitreden will und den Anspruch erhebt, dabei ernst genommen zu werden, der muss sich im jeweiligen Politikbereich gut auskennen. Es genügt eben nicht mehr, sich nur mit der eigenen ideologischen Position von anderen ideologischen Positionen abzugrenzen. Voraussetzung für die politische Meinungsbildung und für eine rationale Wahlentscheidung des Einzelnen ist heute einschlägiges Orientierungswissen zu dem Themenfeld, in dem Veränderungen zur Diskussion stehen.
Es ist zum Beispiel in der aktuellen Situation nicht einfach, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob der Euro der europäischen Integration dient oder schadet, ob und wie die Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb Deutschlands, innerhalb der EU und global überwunden werden kann, wie sich verheerende Finanzkrisen in Zukunft vermeiden lassen, was gegen die Massenarbeitslosigkeit und gegen die prekären Beschäftigungsverhältnisse getan werden sollte, wie die Staatsschulden abgebaut und der Klimawandel aufgehalten werden kann. Ist die Angst von Teilen der Mittelschicht vor dem Abstieg in die Verarmung begründet? Auch Probleme der Bildungs-, Gesundheits- und Rentenpolitik setzen einige Sachkenntnis voraus, um dazu eine gut begründete Position einnehmen zu können. Über die besten Lösungswege aus erkannten Problemlagen streiten sich sogar einschlägige Experten. Von dieser Komplexität des politischen Lebens fühlt sich sogar mancher mündige (politisch interessierte) Bürger überfordert – ganz zu schweigen vom unpolitischen Bürger.
Diese latente Überforderung in der politischen Sphäre führt zu Misstrauen gegenüber den Parteien. Es werden ihnen Unfähigkeit, Machtmissbrauch, Unehrlichkeit und Verstrickungen mit mächtigen Interessengruppen (Stichwort Lobbyismus) vorgeworfen und damit Betrug am Wähler. Das kann bis zu Verschwörungstheorien reichen. Angesichts dieser wohlfeilen Unzufriedenheiten und Vorwürfe befinden sich die Parteien in einer Zwickmühle. Sie wissen, dass sich die überwiegende Mehrheit nicht die Mühe macht, sich komplizierte Begründungen anzuhören, um zu verstehen, welche „Nebenwirkungen“ bestimmte Veränderungen nach sich ziehen und warum eine bestimmte Forderung nicht oder nur sehr eingeschränkt durchsetzbar ist.
Kaum jemand interessiert sich für das Wahlprogramm der Parteien. Daher sehen sie sich gezwungen, in beliebten Talkshows und speziell im Wahlkampf mit inhaltsleeren Schlagworten für sich zu werben, was ihnen natürlich den Spott neunmalkluger Intellektueller einträgt. Die eingängigen nichtssagenden Statements machen deutlich, was die Parteien von der Wählermehrheit und ihrer Aufnahmefähigkeit für differenzierte Aussagen halten – und sie liegen damit richtig. Ein anderes Verhalten wäre politischer Selbstmord.
In dieser äußerst unbefriedigenden Situation, die eigentlich einer Demokratie unwürdig ist, haben sich politisch interessierte und engagierte Bürger in aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen. Sie können sich, anders als die Parteien, mit aller Kraft auf bestimmte Problemkomplexe und Lösungsansätze konzentrieren – auf Themen, die aus ihrer Sicht von der Politik vernachlässigt werden. Themenfelder sind zum Beispiel Natur und Umwelt, die Gesundheit, die wirtschaftliche Globalisierung, der Frieden, die Aufnahme von Flüchtlingen, erneuerbare Energien, Bildung für alle, soziale Gerechtigkeit, der faire Handel mit Entwicklungsländern.
Die Stärke der zivilgesellschaftlichen Gruppen liegt in ihrer Möglichkeit, politische Probleme und Handlungsmöglichkeiten, mit denen sie sich vertieft beschäftigt haben, mit guten Argumenten ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und entsprechenden Handlungsdruck zu erzeugen. Auch wenn diese Gruppen – anders als die gewählten Abgeordneten – selbst keine Gesetze erlassen können, können sie doch an der Machtbasis der Parteien rühren: sie können Wähler beeinflussen, sogar Parteimitglieder. Sie wirken quasi „von außen“ in die Parteien hinein und können auf diesem glaubwürdigen (weil nicht durch taktische Machtspiele kontaminierten) „Umweg“ indirekten Einfluss auf die Gesetzgebung und damit auf die politische Gestaltung der Gesellschaft nehmen.
Es bleibt jedoch festzuhalten: Die politisch aktiven Bürger – ob in Parteien oder in zivilgesellschaftlichen Gruppen engagiert – bilden in der Bevölkerung nur eine sehr kleine Minderheit. Ich schätze sie in Deutschland auf maximal eine Million Menschen (bei ca. achtzig Millionen Gesamtbevölkerung!).
Der Unmut sehr vieler, gerade auch der unpolitischen Bürger über eine als falsch bis korrupt empfundene Politik der etablierten Parteien – Stichwort Parteienverdrossenheit – nimmt zu. Der wachsende Unmut weist auf das Gefühl der Ohnmacht hin, das Bürger empfinden, wenn ihre mehr oder weniger berechtigten Forderungen aus ihrer Sicht von der Politik nicht angemessen aufgegriffen und umgesetzt werden. Die Ohnmacht hat viel zu tun mit der Komplexität der Problemlagen, die nicht durchschaut werden. In solchen Situationen verwischt sich die Grenze zwischen Parteienverdrossenheit und Demokratieverdrossenheit. Der Zweifel an der Fähigkeit von Demokratie, mit ihren Mitteln die drückenden Probleme zu lösen, wird lauter. In Deutschland ist die Lautstärke noch relativ zahm – im Unterschied zu südeuropäischen Ländern, in denen der dramatisch eingebrochene Wohlstand weit größere Menschenmassen auf die Straße getrieben hat. zum Inhaltsverzeichnis
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