Wer über das (instrumentelle) Wissen verfügt, das für seine berufliche und soziale Kompetenz – fachliches know-how, Gesprächsstoff im Privatleben – ausreicht, gilt als ein Mensch, der sein Leben im Griff hat. Er kann mit Anerkennung durch seine Mitmenschen rechnen. Was er sonst noch weiß und denkt, bleibt bei oberflächlichem Kontakt seinen Mitmenschen verborgen.
Wenn diese Person nicht oder kaum über (zweckfreies) „Orientierungswissen“ verfügt, hat sie ein sehr vereinfachtes Bild von der Wirklichkeit im Kopf. Sie zählt zu den unauffälligen Bürgern, die alle von ihnen verlangten Befähigungen aufweisen, die sich jedoch keine vertieften Kenntnisse über Wissensgebiete verschaffen, die über den Horizont praktischer Lebensbewältigung hinausreichen. Sobald von ihr verlangt wird, sich eine relativ fundierte (argumentativ vertretbare) Meinung über komplexe Sachverhalte und Fragen zu bilden, ist sie völlig überfordert, weil sie sich nicht dafür interessiert. Weil sie nicht über die für die jeweilige politische oder kulturelle Debatte relevanten Informationen verfügt, ist diese Person anfällig für Gerüchte, lässt sich leicht von Verschwörungstheorien ängstigen, pflegt Vorurteile und macht sich über umstrittene Problemfelder wirre Gedanken, die nie oder nur am Stammtisch ausgesprochen werden.
Ich denke hier an die Gefahr, die einem demokratischen Gemeinwesen droht, wenn sich ein sehr großer Teil der Bevölkerung oder gar die Mehrheit mit instrumentellem Wissen begnügt.
Die Idee von Demokratie geht vom mündigen Bürger aus, der in der Lage ist, Fragen des allgemeinen Wohls kompetent zu erörtern und fair zu beantworten. In einem Dorf, wo jeder jeden kennt, sind die demokratisch zu entscheidenden Fragen von sehr geringer Komplexität. Sie sind allein mit instrumentellem Wissen zu beantworten – ganz ohne Orientierungswissen, allein mit dem „gesunden Menschenverstand“. Denn wenn in diesem Gemeinwesen eine Maßnahme zu beschließen ist, kann leicht erkannt werden, wer mit welchen Interessen davon positiv und negativ betroffen ist, welche Hindernisse absehbar sind und wie diese überwunden werden können bis hin zu unvermeidlichen Nebenwirkungen, mit denen zu rechnen ist. Der Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen liegt hier ohne komplizierte Verästelungen auf der Hand.
Das ist jedoch grundlegend anders in einem großen und komplexen Gemeinwesen wie einer Nation, in der sich sehr viele unterschiedliche Interessen und Vorstellungen begegnen, teilweise in Konflikt zueinander stehen und unter einen Hut zu bringen sind. Die unter diesen Randbedingungen anstehenden Entscheidungsprozesse sind schwer durchschaubar und setzen bei einer Person, die sich darüber eine Meinung bilden will, eine Menge Orientierungswissen voraus.
Ein Beispiel. Wenn Gruppierungen wie die Dresdner Pegida massiv ihr Misstrauen gegenüber der praktizierten Demokratie bekunden, indem sie sich als „Stimme des Volkes“ verstehen und sowohl den Medien und als auch den gewählten Politikern pauschal vorwerfen, die „Meinung des Volkes“ zu verfälschen, dann kann das als ein Aufstand von Bürgern gedeutet werden, die überwiegend nur über instrumentelles Wissen verfügen. Sie fühlen sich von der Komplexität des modernen Staates überfordert, sind durch gezielte Desinformationen zu erschrecken und fallen in ihren Ängsten leicht auf Feindbilder wie den Islam und die Muslime herein.
Die GEGENdemonstranten sind im Idealfall Bürger, die über hinreichendes Orientierungswissen verfügen, um sich von selbsternannten „Experten“ und Sprücheklopfern nicht ins Boxhorn jagen zu lassen. Sie verstehen die Funktionsbedingungen demokratischer Institutionen und Verfahren, lassen sich trotz der schwierigen Durchschaubarkeit nicht davon abbringen, die Entscheidungen zu komplexen Themen kritisch zu hinterfragen, und sind von ihrem Informationshintergrund und ihrer moralischen Haltung her in der Lage und bereit, ihre sorgfältig bedachten Meinungen mit Argumenten zu begründen.
Sicherlich ist aufgefallen, dass ich im letzten Absatz demokratisch gesonnene Idealbürger im Auge hatte. Menschen, die diesem Idealbild nahe kommen, sind eher selten. Die meisten Demonstranten gegen Pegida sind wohl eher Menschen mit hohen moralischen Maßstäben und mit entsprechender Abneigung gegen Fremdenhass. Sie folgen einem Gefühl der Empörung gegen Feindbilder und demagogische Schlagworte. Sie können, müssen aber nicht zu denen gehören, die sich zu den kontroversen Themen der aktuellen Politik umfassend informiert und darüber differenziert nachgedacht haben. Vielleicht laufen manche von ihnen auch bloß eingängigen Parolen nach – nur eben anderen.
Der aufgezeigte Gedankengang und das Beispiel der Demonstrationen für und gegen Pegida legt folgenden Schluss nahe: Wenn es stimmt, dass die Mehrheit der Bevölkerung entweder nur über instrumentelles Wissen verfügt und darüber hinaus nur über ein eingeschränktes Orientierungswissen – eingeschränkt insofern, als sich ihr Wissen auf so manche Themenfelder, nicht jedoch auf politisch relevante Informationen bezieht – dann verfügen diese politisch uninteressierten und wenig informierten Bürger nicht über die erforderliche Kompetenz, um hoch komplexe demokratische Entscheidungsprozesse verstehen, begleiten und verantwortungsvoll darauf reagieren zu können.
Ich führe hier also in meine Überlegungen eine neue Gruppe von Menschen ein. Ich nenne sie die politisch Uninteressierten und Unwissenden. Unabhängig vom Grad ihrer Informiertheit über sonstige Themen ist diese Gruppe gekennzeichnet durch mangelndes Interesse und entsprechend mangelndes Wissen im Hinblick auf Fragen der Politik. Sie haben keine Ahnung von den relevanten Fakten zum Beispiel des Bildungs- und des Gesundheitswesens, der Infrastrukturplanung, der Umwelt- und Sozialpolitik, der Wirtschaftsentwicklung und anderer Politikbereiche. Ich vermute, dass diese Gruppe die große Mehrheit stellt – auch wenn diese Vermutung dem Anschein widerspricht, den die anspruchsvollen Medien erwecken, indem sie so ausführlich über politische Debatten und Entscheidungen berichten.
Meine Vermutung von der unpolitischen Mehrheit wird gestützt nicht nur durch die geringe Wahlbeteiligung, sondern mehr noch durch die Gründe, warum sich die Wähler für oder gegen eine Person oder eine Partei entscheiden. Befragungen habe ergeben, welche oberflächlichen und wenig reflektierten Motive den Hintergrund für die Stimmabgabe der meisten Bürger bilden – Stichwort „Stimmungsdemokratie“.
Welche Folgen für die Demokratie die (in meinen Augen feststehende) Tatsache hat, dass die Mehrheit sowohl der Nichtwähler als auch der Wähler zur Gruppe der politisch kaum interessierten und informierten Bürger gehört, will ich im nächsten Beitrag erörtern: „Der unpolitische und der politisch engagierte Bürger“. zum Inhaltsverzeichnis
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