Allen Menschen gemeinsam ist das Bemühen, das eigene Leben zu bewältigen und zu gestalten. Jeder Mensch sieht sich also auf seinem Platz im Leben vor bestimmte z.B. familiäre und berufliche Aufgaben gestellt und geht seinen speziellen Feizeitneigungen nach. Und auf diese Aufgaben und Neigungen – auf diesen sehr eingeschränkten Erfahrungsraum – beziehen sich seine Interessen an Informationen. Die meisten Menschen brauchen und wollen nur wissen, was ihnen für ihr praktisches Leben nützlich ist – ein Wissen also, das für Zwecke der Lebensgestaltung instrumentalisiert werden kann. Das gilt für den hoch spezialisierten Wissenschaftler ebenso wie für den ungelernten Beschäftigten, der für seine Tätigkeit nur ein recht überschaubares Wissen braucht. Der BILD-Leser, der sich eine halbe Stunde am Tag die Zeit nimmt, Informationen aufzunehmen, die über seine persönlichen und beruflichen Angelegenheiten hinausreichen, gleicht in dieser Hinsicht dem Uni-Professor, der seinen Lesestoff überwiegend auf Fachliteratur beschränkt und am Abend auch noch die Süddeutsche Zeitung durchblättert, um sich über seinen fachlichen und persönlichen Tellerrand hinaus oberflächlich zu informieren. Um die für sie wichtige fachliche und soziale Kompetenz zu erlangen und zu behalten, benötigen diese Menschen das dafür notwendige (also für sie spezielle) Wissen. Dieses gibt ihnen zwar Sicherheit, weil sie ihr Leben damit auf die Reihe bekommen und bei ihren Mitmenschen ernst genommen werden. Es trägt jedoch kaum dazu bei, dass sie sich als Kollegen oder als Ausübende einer speziellen Freizeitbetätigungüber über ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit hinweg verstehen.
Dieses instrumentelle (lebenspraktische) Wissen ist zu unterscheiden von einem Wissen, dessen Funktion über die Nützlichkeit für die Lebensgestaltung hinausgeht. Ich nenne es Orientierungswissen. Für dieses Wissen sind vor allem intellektuell und kulturell aufgeschlossene Menschen offen. Sie lesen Bücher und Zeitungen hinsichtlich ihrer Interessengebiete gründlich, schauen Filme und Ausstellungen an, gehen in Konzerte oder Sportveranstaltungen. Sie interessieren und engagieren sich mit relativ hohem Zeitaufwand neben ihren beruflichen Verpflichtungen und persönlichen Beziehungen auch für andere Themenkomplexe des Wissens über die Welt „draußen“ wie zum Beispiel für Kunst, Sport, Geschichte, Philosophie, Politik oder Wirtschaft (oder für mehrere dieser Bereiche). Das Pflegen solchen Orientierungswissens ist so eine Art geistige Luxusbeschäftigung für diese Menschen, denn sie tun es – anders als beim Pflegen ihres instrumentellen Wissens – ohne Notwendigkeit allein zu ihrem Vergnügen, um sich zu orientieren, besser zurechtzufinden in der Welt. Sie erweitern ihren geistigen Horizont und üben dabei ihr Urteilsvermögen, auch wenn sie auf ihrem Interessensgebiet das Niveau eines kundigen Laien nicht überschreiten.
Während das instrumentelle Wissen aufgrund der fortgeschrittenen Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft auf Gruppen der jeweils gleichen (beruflichen) Fachrichtung und der jeweils gleichen Freizeitbeschäftigung zugeschnitten ist und daher inselartig aufgeteilt ist, fehlt dem Orientierungswissen die Exklusivität. Es ist allgemein verfügbar und breit gestreut. Wer will, kann nicht-spezielles Wissen aus konventionellen und digitalen Medien schöpfen. Unabhängig von seinen Lebenszusammenhängen hat jeder Zugang dazu.
Das Orientierungswissen verbindet im jeweiligen Sprachraum Menschen unterschiedlichen beruflichen Spezialwissens über alle Gruppengrenzen hinweg. Jeder öffentliche Diskurs bezieht sich auf das Orientierungswissen der dafür aufgeschlossenen Menschen. Dieses gruppenübergreifende allgemeine Wissen ist die Ausgangssituation für einen Mainstream, der Gemeinsamkeiten im Denken und Werten abbildet. Dieser Mainstream wird auch „Zeitgeist“ genannt, dem sich kein Zeitgenosse völlig entziehen kann. Die Herausbildung des Zeitgeistes bietet die mentale Grundlage für eine Verständigung zwischen unterschiedlich informierten Menschen bei unterschiedlicher Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Die Allgemeinheit der Wissensbasis macht sowohl kontroverse Debatten als auch das Verfolgen gemeinsamer (gesellschaftlicher) Ziele möglich. Der „Turmbau zu Babel“ kann unter dieser Voraussetzung ohne Sprachverwirrung stattfinden.
Natürlich bleibt auch der Mensch, der sowohl über instrumentelles als auch über orientierendes Wissen verfügt, noch ein ständig Fragender, der sich der Grenzen seines Wissens und Urteilsvermögens stets bewusst bleiben muss. Was ich hier meine, hat Peter Sloterdijk so ausgedrückt: „Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muss. Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensichtlichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt. Unbehagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuss des Unerklärlichen vor dem Erschlossenen.“ (aus: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Suhrkamp 2014)
Welchen Erkenntnisgewinn die Unterscheidung von instrumentellem und orientierendem Wissen bringen kann, werde ich im nächsten Beitrag bedenken. zum Inhaltsverzeichnis
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